Behauptung statt Wahrheit. Erwin Leonhardi
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Allerdings werden Sachverhalte nicht wahrer durch Abstimmung oder Zustimmung Gleichgesinnter. Auch Rituale zur festeren inneren Bindung der Gleichgesinnten oder Tötung Andersdenkender erhöhen nicht den Wahrheitsgehalt der eigenen Ideologie.
Sind Denkwelten erst einmal etabliert, sinkt interessanterweise meistens die Toleranz anderen gegenüber drastisch. Paradoxerweise gilt dies sogar dann, wenn Toleranz eine erklärte Eigenschaft der Ideologie ist. Intolerante Haltung wird aber über kurz oder lang für jede Ideologie gefährlich, denn sie führt zur Verkrustung und Verarmung des eigenen Gedankengutes und letztlich zur Institutionalisierung von Unsinnigkeiten. Die Anhängerschaft realisiert dies eher als die Chef-Ideologen und antwortet zunächst mit innerer Ablehnung, dann mit Abspaltung oder Flügelbildung und später mit totaler Abkehrung. So jedenfalls haben bisher alle Ideologien geendet, seien sie weltlichen oder geistlichen Ursprungs. Sie eliminieren sich über Zeit selbst. Wer Augen hat, zu sehen, kann das an zeitgenössischen Abläufen beobachten.
Manchmal gibt es auf Fragen mehrere mögliche Antworten. Das ist besonders dann so, wenn man wertfrei denken will. Es gibt keinen Zwang, der besagt, dass es immer nur eine Möglichkeit gibt. Mehrere Wahrheiten gibt es nicht, aber mehrere Fakten zu einer Sache, die manchmal verschiedene Schlüsse zulassen, gibt es durchaus.
Im Zweifelsfall bietet Ockhams Rasiermesser, eine einfache Einschätzungsweise. Begründer dieser auch Sparsamkeitsprinzip genannten Methode war Wilhelm von Ockham (1288 - 1348). Sie geht auf die Scholastik zurück und besagt, dass wahrscheinlich diejenige Aussage richtig ist, die mit der geringsten Anzahl an Hypothesen und ohne Widerspruch zu Bekanntem auskommt. Sie stellt somit die einfachste Theorie dar. Das ist zwar keine Garantie für Richtigkeit, erweist sich im Nachhinein aber fast immer als zutreffend. Das Rasiermesser steht metaphorisch für das Wegschneiden unpassender Erklärungsansätze.
Meist sind die wirklichen Antworten auf alle möglichen Fragen einfach. Fragen zu stellen ist legitim. Die richtigen Fragen zu stellen ist eine Kunst, und ebenso kunstvoll ist es, aus den Antworten den objektiven Gehalt heraus zu schälen.
Wenn man sich tief in dieses Muster begibt, werden viele Ungereimtheiten klar, allerdings wird auch manche vorherige Klarheit nebulös. Eines passiert mit Sicherheit: Man wird frei. Und weil man frei wird, entsteht Unbeschwertheit, alles wird leicht, das Unabdingbare wird erträglich, man findet die innere Ruhe.
Das sehen viele Freidenker als die größte erreichbare innere Stärke an. Ideologen sehen das völlig anders.
Kirche und Staat
Die Verflechtung von Kirche und Staat ist so alt wie die Menschheit. Bei fast allen Naturvölkern kann man die Urversion ablesen, die als Muster für diesen gesellschaftlichen Dualismus gilt.
Dort gibt es ein Stammesoberhaupt, meistens körperlich der Stärkste oder der geschickteste Jäger oder der Weiseste, zumindest jemand, der dieser Gesellschaft im täglichen Daseinskampf einen messbaren Nutzen bringt. Er ist der Herrscher. Und es gibt einen Magier oder Schamanen oder Medizinmann, eine selbst ernannte Autorität, mit der man es sich besser nicht verdirbt, weil er angeblich mit übersinnlichen Mächten in Verbindung steht. Er hat erkannt, dass er mit Mystifizierung Macht ausüben kann. Die mystischen Dinge behauptet er einfach und praktiziert Scheinbeweise. Seine Machtstellung gründet er auf die Verbindung zu irgendwelchen Göttern, die es regnen lassen, die gute Ernte gewähren, die Gesundheit verheißen, die im Prinzip alle nicht nachprüfbaren Vorkommnisse regeln. Tritt seine Prognose ein, untermauert das seine Fähigkeiten, tritt sie nicht ein, sucht er einen "Sünder" aus und sorgt mehr oder weniger grausam für dessen Bestrafung, möglichst in aller Öffentlichkeit. Für seine Dienste lässt er sich von der Allgemeinheit entlohnen, mit Geld oder Naturalien. Das Oberhaupt lässt den Schamanen gewähren, weil selbst ihm Unheil drohen könnte, sollte er in Ungnade fallen.
Dieses allgemein bekannte, kleine Szenario ist die Urform von Staat und Kirche. In den später wachsenden Gesellschaften hat sich in Erweiterung der Urform eine Priesterschaft entwickelt, die sich in allen Kulturen höchste Macht angeeignet hatte.
In Alt-Ägypten wurde dem Sem-Priester, seines Zeichens Hohepriester des Osiris, dem ägyptischen Gott des Jenseits, die Macht zugesprochen, nach dem Tod den König zu beleben, ihn zu regenerieren und dessen Weg zu ewiger Herrschaft zu öffnen. Welcher ägyptische König konnte sich im eigenen Interesse dieser Macht entgegenstellen?
Die Griechen hatten schon sehr früh ihre Götterwelt geschaffen. Sie glaubten fest an deren Macht und richteten im Alltag ihr Verhalten nach dem vorgegebenen religiösen Kodex aus. Dass im frühen europäischen Mittelalter die griechische Götterwelt zur Mythologie herabqualifiziert wurde, ist der kirchlichen Überheblichkeit zuzuschreiben.
Der babylonische Priester Berossos, ca. 330-280 v. Chr., ist bekannt als Verfasser eines historischen Werks in griechischer Sprache und als Begründer der hellenistischen Astrologie. Er diente dem Gott Bel-Marduk und genoss höchstes Ansehen im Herrscherhaus. In seinem Werk begründete er durch die Verbindung mesopotamischer und griechischer Tradition die Legitimierung der Seleukidenherrschaft. Der Nachfolger Alexanders des Großen, Seleukos I., wusste genau, dass ein verärgerter Berossos auch ein beliebiges anderes Herrschaftshaus hätte begründen können. Es wäre unklug gewesen, sich gegen Berossos zu stellen.
In der römischen Religion übte während der Monarchie der König die obersten priesterlichen Funktionen aus. Zu Zeiten der Republik gebührte das dem Oberpriester. Die Priester genossen besondere Ehren- und Vorrechte und galten auch als Hüter der Traditionen, was sie in ihrer altertümlichen Tracht zum Ausdruck brachten. Wesentliche politische Entscheidungen während der Zeit der Republik wurden vorher mit dem Oberpriester besprochen. Es war politisch riskant, gegen den priesterlichen Rat zu handeln.
Irgendwann im frühen Altertum ist neben anderen altorientalischen Religionen das Judentum entstanden. Grundlage dafür war die nicht ganz neue Idee des Monotheismus, die der ägyptische König Echnaton als Erster geprägt hatte. Dessen Ansatz mit dem einzigen Gott wurde allerdings nach seinem Tod durch die Priesterschaft eiligst getilgt. Zu viele Priester wären überflüssig geworden, wenn sich Echnatons Auffassung durchgesetzt hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass die frühen Juden von der Ansicht Echnatons inspiriert waren, als sie ihren monotheistischen Gottesglauben schufen. Die spätere Ablösung des überaus strengen Gottes des Alten Testaments durch die Vaterfigur des gnädigen Gottes, die der Religionsstifter Jesus bewirkt hat, kam einer Erlösung gleich und wurde zum Fundament des Christentums. Insofern erscheint die Bezeichnung Erlöser in diesem Licht passend.
Nachdem die christliche Urkirche durch den römischen Kaiser Konstantin (272-337 n. Chr.) aus innenpolitischen Gründen offiziell anerkannt wurde, hat sie ihre Macht entfaltet. Im europäischen Mittelalter stellte sich das Papsttum zwischen Gott und die Herrscher, von denen viele selbst glaubten, sie seien von Gottes Gnaden in diese Führungsrolle gesetzt. Die über Jahrhunderte gepflegte Krönung der Könige und Kaiser durch den Papst diente der öffentlichen Machtdemonstration der Kirche. Diese Macht war kompromisslos.
So konnte sich der Klerus aktiv in die Landesführung einmischen und die jeweiligen Königshäuser in eine Art Geiselhaft nehmen. Wer sich nicht fügte, wurde exkommuniziert. Das war Jahrhunderte lang die Höchststrafe für einen Herrscher und gleichbedeutend mit dem totalen Machtverlust. Jeder hat vom Gang Heinrichs IV. nach Canossa gehört. Ein bekanntes Beispiel für diese Art von Konflikten ist auch der Machtkampf zwischen dem englischen König Heinrich VIII. und Papst Clemens VII. Hier führte der Widerstand gegen die päpstliche Macht in England zur Kirchenspaltung.
Über alle Religionen hinweg lässt sich ein absolut gleicher Dachgedanke