Behauptung statt Wahrheit. Erwin Leonhardi
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Nach dem Ersten Weltkrieg regelte die Weimarer Nationalversammlung 1919 in der Weimarer Reichsverfassung das Verhältnis von Staat und Kirchen neu. Sie schuf eine Basis, die auf Religionsfreiheit, weltanschaulicher Neutralität und der Selbstbestimmung aller Religionsgemeinschaften beruht. Die Staatskirche und Staatsreligion sind damit ersatzlos weggefallen. Aber schon 1926 bezeichnete Ulrich Stutz, ein deutscher Rechtshistoriker und Kirchenrechtler, die damals gewählte Konstruktion als "hinkende Trennung". Das heutige Grundgesetz führt die damaligen Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung im Artikel 140 ganzheitlich eingliedernd fort. So ist hier die Klarheit der Trennung nicht verbessert worden.
Ein wesentlicher Unterschied in der Legitimierung besteht heute darin, dass die Staatsführung demokratisch gewählt wird, während die Organe der Kirchen absolutistisch bestimmt werden. Hier ist die Volksmeinung bedeutungslos. Diejenigen, welche die Kirche bezahlen, und für die ihre Kirche angeblich da ist, dürfen nicht mitbestimmen.
Während sich der Staat eher selten, meist gar nicht, in die Angelegenheiten der Kirchen einmischt, ist der umgekehrte Weg fest etabliert. Es gibt in vielen Staaten kirchliche Zentralräte, die aktiven Lobbyismus betreiben. Umgekehrt gibt es das nicht. Es gibt zwar Botschafter im Vatikan. Deren Aufgabe ist es aber, Befehlsempfänger zu sein, nicht Berater.
Ohne eine rechtliche Basis nehmen sich die Kirchen die Position der Mitsprache heraus, wenn es um Gesetze geht, die nach ihrer Auffassung ihr Selbstverständnis tangieren. Dazu gehören die Bereiche von Verhütungsmitteln, Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung, Tierversuche und andere Themen, für die sogenannte Ethikkommissionen eingesetzt werden. Die sollen den Kreis quadratieren und die Spannung zwischen Wissenschaft und Kirche neutralisieren. Bisher ist dies nur mangelhaft gelungen. Dass in diesen staatlichen Ethikkommissionen sehr häufig Vertreter der Kirchen vorkommen, kritisieren humanistische Verbände und Vertreter des Atheismus seit vielen Jahren. Sie bemängeln die Einmischung der Kirchen generell und auch, dass Nichtchristen und Konfessionslose nicht in gleichem Maße präsent sein dürfen, obwohl allein Konfessionslose mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung ausmachen.
Weitgehend unbekannt ist die Tatsache, dass die Kirche zustimmen muss, bevor eine vorgeschlagene Person einen theologischen Lehrstuhl an einer Universität einnehmen kann. Wer nicht linientreu ist, darf nicht lehren.
Den Kirchen ist das nur möglich, weil die Politik sich nicht ausreichend dieser Einflussnahme erwehrt. Offenbar überwiegt die Angst vor Stimmenverlust den Neutralitätsauftrag. Dabei gebären sich die Kirchenführer als geistlich und moralisch höchste Führungsinstanz. Diese Rolle haben sie sich kraft souveräner Willkür selbst zugeschrieben. Begründet wird das Ganze mit der Bibel, der angeblich Heiligen Schrift, aus der sie eine Dogmatik abgeleitet haben, die zum großen Teil in diesem Schrifttum überhaupt nicht vorhanden ist.
Gerichtsbarkeit
Zur Sicherheit hat sich die Kirche im Grundgesetz ihre eigene Gerichtsbarkeit festschreiben lassen. Als Konsequenz von Religionsfreiheit und der Trennung von Staat und Kirche gilt in Deutschland das Recht der Religionsgemeinschaften, innere Angelegenheiten selbst zu regeln. Dies ist im Grundgesetz verankert (Art. 137 Abs. 3 WRV - kirchliches Selbstbestimmungsrecht). Der Absatz lautet: (3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Hat die jeweilige Religionsgemeinschaft den Status einer anerkannten Kirche, so ist ihr internes Kirchenrecht so machtvoll wie das öffentliche Recht.
Das erklärt den unverständlich zögerlichen Umgang der Kirche mit strafrechtlichen Verfehlungen ihrer Organe. Auch im Bereich von arbeitsrechtlichen Aspekten herrschen in der Organisation der Kirche und den von ihr betreuten Institutionen eigenmächtige Regelungen, die außerhalb des für alle geltenden Gesetzes liegen.
Bis heute gelingt es der Kirche, den Rechtsstaat weitestgehend auszusperren und ihn gleichzeitig ohne Gegenleistung zu benutzen, beispielsweise zur Eintreibung der Kirchensteuer durch die Infrastruktur des Finanzamts. Unverständlich ist, dass sie von der Offenlegung der Mittelverwendung weitestgehend befreit ist, während jeder Bürger, und besonders jedes Unternehmen, jährlich eine peinlich genaue Steuererklärung abgeben muss.
Selbst bei Verbrechen hält sich der Staat deutlich zurück. Die tausendfachen sexuellen Übergriffe von kirchlichen sogenannten Hirten und Würdenträgern auf Kinder und Jugendliche, bis hin zu Vergewaltigungen von Nonnen, sind weltweit bekannt. Es ist kaum etwas darüber zu erfahren, ob und in welchen Fällen die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat, und ob es Strafen nach dem weltlichen Strafmaß gegeben hat. Es müssten diesbezüglich weltweit Tausende Strafprozesse anhängig und einige Gefängnisse mit kirchlichen Würdenträgern gefüllt sein.
Bekannte Fälle, die Verwunderung hervorrufen, gibt es genügend. Besonders bezeichnend ist hier die Aufforderung von Robert Zollitsch, ein 1938 in Jugoslawien geborener katholischer Würdenträger und Freiburger Erzbischof und damals Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, an die Bundeskanzlerin, sie solle sich bei ihm dafür entschuldigen, dass sie den zögerlichen Umgang der Kirche bei der Verfolgung von Sexualstraftaten beklagt hat.
Das steht so jemand nicht zu. Es ist schlichtweg ungehörig. Die Kirche hat nachweislich bis heute keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht. Zollitsch meinte wahrscheinlich, Angriff sei die beste Verteidigung. Hier war es allerdings eine Dummheit, über die ganz Deutschland den Kopf schüttelte. Es gibt kaum einen besseren Beweis dafür, dass sich an der Überheblichkeit geistlicher Würdenträger noch immer nichts geändert hat.
Bedeutet die offensichtliche staatliche Passivität, dass die Kirche sogar Verbrechen ohne öffentliche Verfolgung hausintern regeln kann? Oder versucht die Kirche, diese strafrechtliche Problematik durch Verschleppung bis zur Verjährung auszusitzen? Es scheint, als bliebe die Kirche selbst bei Verbrechen ein Tabu.
Warum lässt der Staat das tatenlos zu? Warum gehen so wenige Betroffene staatsanwaltlich aktiv gegen diese skandalöse Untätigkeit der Kirche vor? Möglicherweise rechnet man mit Chancenlosigkeit, weil man mit der Klageabweisung wegen Nicht-Zuständigkeit rechnen muss. Das wäre eine traurige Gegebenheit.
Die Bürger werden sich eines Tages dieser Fragen annehmen und mit ihren Mitteln dafür sorgen, dass die Politik handelt. Die Mittel der Bürger sind bedeutend. Sie entscheiden über die Ergebnisse von Wahlen, und sie können Themen durch deutliche Meinungsäußerungen bei Demonstrationen in der Priorität der sich anbietenden Parteien weit nach oben bringen. Das "C" im Namen einiger Parteien bedeutet christlich, nicht der Kirche hörig.
Macht und Anmaßung
Grundsätzlich muss man sich fragen, wie es dazu kommen kann, dass die reine unbeweisbare Ideologie einer Religion ausreicht, einen erheblichen Teil der Menschheit so zu beherrschen, dass die religionstragenden Organe auf Kosten der produktiven Allgemeinheit besser leben können als die meisten der sie finanzierenden Menschen. Dies gilt schon für die frühgeschichtlichen Priesterschaften. Selbst die Reformation hat im Wesentlichen nur rituelle Änderungen hervorgebracht. Messen, Zölibat, Abendmahl-Materieverwandlung und andere sogenannte Grundpfeiler sind bei genauerem Hinsehen Nebenschauplätze. Im prinzipiellen Machtdenken sind alle gleich.
Kompetenz und alleinige Zuständigkeit für die Interpretation des Gotteswillens spricht sich jede Religionsführung selbst zu. Als selbst ernannte höchste Instanz definiert sie, was gut und böse ist. Mit den Folgen von Verfehlungen schürt sie Ängste und erfindet schlimmste abstrakte Strafen, die