3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу 3000 Plattenkritiken - Matthias Wagner страница 6
Prince
„Graffiti Bridge” (1990)
Computerrhythmisierte Funk-Rapsoul-Gospel-Dancefloor-Delirien, bis zum Bersten prall gefüllt mit skurrilen Soundgags und sich stets auf multiplen Ebenen entwickelnd: Musik für Kopf-Hörer, die dennoch ihre Tanzbeine noch zu schwingen wissen. Bei keinem anderen Studiotüftler passiert so viel im Hintergrund, lohnt sich das Tiefenhören mehr als bei Prince; er adaptiert alle Genres schwarzer Musik, modelt sie um, ironisiert sie oder nimmt sie einfach ernst, bekundet hingebungsvolle Liebe zur Kunst wie zum Kitsch. Ein in allen Regenbogenfarben schillernder eigenständiger Soundtrack, den niemand von vorn bis hinten mögen wird, der aber allen zumindest partikelweise was zu bieten hat. Gäste unter anderen: Der Funkpapst George Clinton und Mavis Staples als gospelnde „Melody Cool“. Der Film wird übrigens bald nachgeliefert.
Quiet Force
„Smile” (1990)
Humor glaubt er zu haben, der unter Quiet Force firmierende Steven Toeteberg, wenn er großmäulig (und gespielt selbstironisch) seine neue CD „Smile“ in mäßigem Deutsch anpreist als „bestes New-Instrumental-Music-Album was je in Europa entstanden ist“. Das stimmt nicht. „Smile“ erscheint bei Innovative Communications (IC), dem neben Erdenklang wohl rührigsten Label des Genres, und präsentiert verspielten Eklektizismus, der oft in flache Seichtheit oder gefällig Tanzbares mündet. Toeteberg zitiert Miles Davis wie Morricone, Jazzrock wie Soul, auch Ethnopop und selbst HR1-Nachmittagssound. Vielfalt, konturlos.
Rio Reiser
„Rio” (1990)
Mit diesem Album erweist sich Rio Reiser endgültig als bester deutscher Songschreiber. Klar: Die Zeiten, da er einer jubelnden deutschen Studentenschaft „Keine Macht für niemand” entgegenschrie, sie sind nicht mehr. Rio ist jetzt ganz Privatmann, singt – mal poetisch und metaphernreich, mal ironisch und schnoddrig – vom ganz persönlichen Sehnen und Sorgen, von verlorener Liebe und Jugend. Wird es doch mal politisch, dann kalauert er gleich sarkastisch „Helmut kommt vor dem Fall“, ganz wie in späten Scherben-Zeiten. Dazu hört man exzellente elektronische Arrangements, die so ganz anders sind als die wabernde Synthieschleimspur, die sich von Genesis bis Grönemeyer durchgesetzt hat. Reiser nutzt den Computer kreativ, erzielt kammermusikalische Intimität genauso stilsicher wie vielfältig pulsierende, heterogene Klangmuster in den schnelleren Stücken. Eine originelle und ideenreiche Platte, der Charts- und Marktgesetze offenbar kein Dogma sind. Vielleicht liegt deshalb auch keine Bestellkarte bei.
Roger Waters
„The Wall live in Berlin” (1990)
Was macht ein Kunstwerk aus? Originalität und handwerklich solide Ausführung: Das zumindest sollten zwei seiner Eigenschaften sein. „The Wall“, das monumentale Pink-Floyd-Werk von 1979, wies beide auf – in welchem Maße, mag dahingestellt sein. Als erfolgreichstes Doppelalbum überhaupt hat es sich eh immunisiert gegen allzu sophistische Kritik. Doch am 21. Juli 1990 auf dem Potsdamer Platz in Berlin; da, wo Hitler einst seinen Führerbunker anlegen ließ, entlarvte es sich selbst. Das größte Pop- und Rockspektakel der Geschichte erwies sich als heiße Luft, als fader Abguss. Die Story, die „The Wall” immer noch erzählt, ist armselig dünn, ist weh- und selbstmitleidig und das in gleichem Maß, wie der äußere Aufwand überbordend und anmaßend war. Ohren, Augen, alle Sinne sollten betäubt werden. Eine fast 170 Meter breite Bühne, die größten jemals hergestellten aufblasbaren Figuren (sic!), ein Stromverbrauch von glatten fünf Megawatt, riesenhaft projizierte Trickfilme und natürlich die obligaten zweieinhalbtausend Mauersteine aus Styropor: Alles bloß Blendwerk, um die Larmoyanz zu übertünchen. Aber das ging schief, der Komponist und Exekutor selbst, Roger Waters, hat es gründlich verbockt. Denn an jenem Juliabend forderte die Gigantomanie ihren Tribut: Der Strom fiel zeitweise aus, die Verständigung zwischen den Musikern klappte nicht und Roger Waters sang – will sagen: jaulte – zum Gotterbarmen. Auf den jetzt vorliegenden Tonträgern sind die wesentlichen Schnitzer eliminiert; man griff auf die mitgeschnittene Generalprobe zurück. Nur der größte Schwachpunkt blieb erhalten: Waters selbst. Und er hat die Einsamkeit des Studios nicht einmal genutzt, um seine vokalen Schwächen posthum zu kaschieren. Schräg, schief und überfordert in den hohen Lagen konmt’s auch aus der Rille, ganz wie im Konzert. Sicher: Die Konkurrenz, von ihm selbst eingeladen, war groß. Und es gibt nicht wenige, die im direkten Vergleich mit den Singkünsten eines Paul Carrack oder Van Morrison ausgesprochen alt aussehen. Doch Waters war schlicht überfordert, sein Versagen Symptom einer gewaltigen Selbstüberschätzung. So scheint die dritte wesentliche Eigenschaft eines Kunstwerkes das rechte Verhältnis zwischen Form und Inhalt zu sein. Eine Eigenschaft, die offenbar auch vom Ort der Präsentation abhängt. Wo vorher ein kilometerlanger Wall globale Systemgegensätze geradezu klassisch verkörperte, da errichtete nun Roger Waters eine Wand aus Styropor, die weiter nichts als die Isolation eines armseligen Egos versinnbildlichen sollte. Sage und schreibe 320.000 Leute, halb mal mehr als einst in Woodstock, wollten sehen, wie das grotesk-grandiose Symbol des Kalten Krieges gleichgesetzt wurde mit der Kontaktarmut eines fiktiven weinerlichen Buben namens Pink. Eine prätentiöse Anmaßung ohnegleichen. Denn was der Untergang des DDR-Sozialismus mit einem individuellen Psychodrama zu tun haben soll – außer der mehr als mageren Schnittmenge eines schiefen Symbols –, weiß nur Waters allein. Das ganze, modisch unter der Fahne des guten Zwecks segelnde Spektakel war von vornherein überflüssig. Sein einziger Zweck: Einen ins Abseits geratenen Musiker wieder ins Gespräch zu bringen. Was ihm nachhaltig zu gelingen scheint, wie die aktuellen Verkaufszahlen von „The Wall” (auch der Studioversion) eindrucksvoll belegen. Wie schrieb doch der weise Macchiavelli einst: „Wenn ihn die Tat anklagt, so muss ihn der Erfolg entschuldigen.” Oder immunisieren – gegen allzu sophistische Kritik.
The Durutti Column
„Vini Reilly” (1990)
Es ist nicht schwer, Vini Reilly bislang überhört zu haben. Einem seiner Instrumentalstücke im Radio zu begegnen, ist ein absoluter Glücksfall, und die Hochglanzseiten der Fachpresse schmücken sich selten mit seinem Konterfei. Er ist offenbar ein scheuer Zeitgenosse, versteckt sich vorzugsweise hinter dem bizarren Gruppennamen „The Durutti Column“, unter dem er nunmehr sechs Alben veröffentlicht hat. Erst das letzte trägt seinen Namen, verwirrenderweise als Titel. Das Cover ziert ein schwarzweißes Foto von ihm: ein überaus hagerer Mann mit markanten Zügen, der den Kopf aufstützt und auf verzwickte Weise haarscharf an uns vorbeischaut. Reilly spielt Gitarren aller Art, sein Stil ist beeinflusst von Avantgarde bis Minimal Music und doch völlig eigenständig, unvergleichlich. Seine großartigen Lautmalereien erinnern noch am ehesten an die Low-Budget-Platten, die das Cluster-Mitglied Roedelius in den 70ern veröffentlichte.