3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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Vox
„Diadema” (1990)
Hildegard von Bingen, eine mittelalterliche Mystikerin, hat einen umfangreichen Fundus an Schriften und Kompositionen hinterlassen. Die deutsch-italienisch-amerikanische Gruppe Vox hat den Versuch unternommen, die voluminösen Melodiebögen Hildegards authentisch wiederzubeleben – mit größtem Erfolg. Drei Frauenstimmen, uralte Instrumente und behutsame Elektronik, die dramatische Akzente setzt, ohne auf Effekte aus zu sein: Das sind die Ingredienzen einer faszinierenden CD, die einige Assoziationen an Eberhard Schoeners „Trance formation“ weckt, in ihrem ernsthaften Bemühen um kongeniale Adaption gregorianischer Musik jedoch weit darüber hinausgeht.
1991
„Es kann passieren, dass man diesen Soundtrack zwanghaft dreimal in Folge auflegen muss. Keine Vermutung: Erfahrung.“
aus der Rezension zu „The sheltering Sky“ von Ryuichi Sakamoto
Al Di Meola
„World Sinfonia” (1991)
Al war früher ein Gitarrist, dessen Up-Tempo-Saitengewichse immer dann schrecklich anödete, wenn er sich in der eigenen Virtuosität suhlte und das Wesentliche vergaß: Emotion. Das geschah allzu oft. „World Sinfonia“, ein Gruppenprojekt, steht nun für Meolas diesbezügliches Aha-Erlebnis, was nicht nur in der Widmung an den Bandoneon-Meister Piazzolla zum Ausdruck kommt. Meola hat die Latino-Gefühlswelt für sich entdeckt und, was noch wichtiger ist, sie nachempfunden und behutsam (!) adaptiert. Mit Hilfe von Leuten wie Dino Saluzzi freilich, der das noch immer von selbstverliebten Technizismen nicht völlig freie Spiel Di Meolas mit warmen Bandoneonklängen kontrastiert. Eine furiose, brillant abgemischte Nord-Süd-Fusion. Und 63 Minuten lang.
Chris & Cosey
„Pagan Tango” (1991)
C & C haben die Noiseschiene bereits mit ihrer Abspaltung von Throbbing Cristle verlassen. „TG“ schockte vor zehn Jahren die halbwegs heile New-Wave-Welt mit Ekelvideos und einem Sound, der sich vom Lärm einer Autofabrik nur noch in Nuancen unterschied. Nach dem Split machten Chris & Cosey als Duo weiter, begannen der kalten industriellen Welt nunmehr eine ausgesprochen spröde Schönheit abzugewinnen. „Pagan Tango“ wartet jetzt mit den bezauberndsten Technogrooves auf, die sie je zustandebrachten. Alle Wärme wurde der Musik rigoros ausgetrieben. Cosey haucht im Sprechgesang postmoderne Depressionen, Chris sorgt für die eiskalte Synthiebasis. Manchmal brechen zerbrechlich-zarte Melodien die tanzbare Monotonie der computerisierten Fließbandklänge auf. Eine Platte mit dem Charme einer Tiefkühltruhe, geeignet zur Berieselung von Robotern, die in den menschenleeren Fabriken der Zukunft ihren Dienst tun. Und sie könnten sich dabei ineinander verlieben.
Christian Redl
„14 und ein Viertel Jahr” (1991)
Christian Redl ist Schauspieler in Hamburg. Er mag François Villon, vor allem in der Übersetzung von Paul Zech. Die hat er genommen, hat hochkarätige Musiker dazu aufspielen lassen und sodann die uralten, ewigjungen Balladen rezitiert – mit Hingabe und Anteilnahme, ganz so, als seien sie eben erst entstanden und der Pariser Dichter und Heißsporn nicht schon tot seit 500 Jahren. „14 und ein Viertel Jahr“ heißt die CD, und genau so alt war die Geliebte, der gleich im ersten (und schönsten) Stück, „Cylea“, wehmütig gehuldigt wird. Villon war ein Poet des Windes und des Sommers, einer des prallen Lebens und vor allem: einer des Eros. Derb und zärtlich zugleich preist er die Freuden körperlicher Liebe, giert lüstern nach dem roten Erdbeermund der Gespielin, seufzt in fließenden Jamben: „Die Luft erbrach sich fast vor Fruchtbarkeit/Und unsereins hat Gott wer weiß wie lang nicht mehr/Sich in ein Weiberfell hineingewühlt.“Vieles passiert im Freien, Wind, Gras und Vögel mischen immer mit beim Liebesakt. Uns, auf Ökozide stets gefasst, wird da schnell ganz weh ums Herz bei so viel unschuldig-hymnischer Naturbeschwörung, bei so viel Synonymität von Sex und sommerlichen Wiesen. Redl beschwört die reiche, ganz diesseitig gewendete Sprach- und Sinnenwelt Villons mit zittriger, bittersüß gefärbter Stimme; sie spiegelt gut die dunkle Ahnung von Vergänglichkeit und Tod, die den lebenstrunkenen Versen stets eingewoben ist. Dieser Dichter wusste: „Nur der, der lebt, lebt angenehm.“ Exmusiker der Gruppe Ougenweide legen den saftigen Texten mit vorwiegend akustischem Instrumentarium behutsam ein zart-filigranes, mal verhalten rhythmisches, mal statisch ruhendes Klanggewand um. Diese Hommage an den poete maudit, an den Mörder, Dieb und Verseschmied Villon, der 32-jährig auf Nimmerwiedersehn verschwand, ist ein wundersames Kleinod. Villon, hätte er Ende der 60er-Jahre unseres Jahrhunderts gelebt, er wäre ein Kultstar geworden, einer jener faszinierenden, lasterhaften Exzentriker, berüchtigt für Drogenexzesse, wilde Schlägereien und demolierte Hotelzimmer.
Cusco
„Water Storys” (1991)
Es ist an der Zeit, gegen den entsetzlich glitschigen, klebrig-süßen, hirn- und hörgangverkleisternden, reaktionär harmlos „schönen“, übelkeitserregenden Synthieschleim zu wettern, den Cusco seit nunmehr werweißwie vielen CDs absondert. In Japan fahren sie voll ab auf den seichten Schmuh, in den Billboard-New-Age-Charts taucht er auf, aber hierzuland wollen wir, bittschön, verschont werden davon. Hinter dem unsäglich substanzlosen Geseiere steckt übrigens Exschnulzenheini Michael Holm, manchen noch in Erinnerung als vergebens nach dem Mädchen aus „Mendocino“ suchend. Such weiter, Michael. Sing Schlager.
Die Lassie Singers
„… helfen Dir” (1991)
Okay, setzt Jonathan Richman in eine Zeitmaschine, gabelt bei einem Zwischenstopp in 1980 Nena und die Doraus auf, reist zurück in die 50er, sucht nach Connie Francis und bringt sie dazu, zu Jonathans Musik loszuträllern, im Chor mit Nena und den Doraus. Teenielieder im Geist der 60er natürlich, mit pubertärem Touch, einem Hauch von Dr. Sommer und ersten Pickeln, kindlich schräg und begleitet von akustischen Gitarren, Zupfbass und holprigem Schlagwerk. Und nennt dieses genialisch-dilettantische Amalgam aus Neuer Deutscher Welle, BRAVO-Erotik, Bubblegumpop und Itsy-Bitsy-Teenie-Weenie-Honolulu-Strand-Bikini meinetwegen „Lassie Singers“. Genau: nach dem Hund. Einem Collie. Und wisst ihr, was dann passiert? Die Platte wird Scheibe des Sommers. Und nicht nur, weil die Lassies (übrigens aus Berlin) endlich die Frage beantworten, warum nette Mädchen niemals glücklich werden können. Weil sie sich nämlich immer nur in wilde Kerls verlieben. Darum.
Die Toten Hosen
„Learning English Lesson One” (1991)
Wisst Ihr noch, wie Mami anno 77 Zeter und Mordio schreiend die Sicherung rausriss, weil die Sex Pistols wie ein Erdbeben aus den Boxen dröhnten? Hach … – Nun, auch die Toten Hosen sind Nostalgiker, und sie haben die Punkzombies von einst wiederbelebt und die wenigen Überlebenden zum Mitpunken animiert. Herausgekommen ist das lauteste und beste Punkalbum seit „Rocket to Russia“; Joey Ramone