Nur Fleisch. Jack London
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Der Knabe neben Johnny wimmerte und schnaufte. Sein Gesicht war von Haß auf den Vorarbeiter verzerrt, der ihn drohend aus der Ferne im Auge behielt, aber jede Spule lief in voller Fahrt. Der Junge heulte furchtbare Flüche in die sich hastig drehenden Spulen hinein, aber das Geheul drang keine sechs Fuß weit in den Raum, denn der Lärm stemmte sich wie eine Mauer dagegen.
Von alledem nahm Johnny keine Notiz. Er pflegte die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Zudem wurde alles in der Welt so eintönig, wenn es sich immer wiederholte, und dieses bestimmte Geschehnis hatte er viele Male erlebt. Sich gegen den Vorarbeiter aufzulehnen, erschien ihm ebenso zwecklos, wie dem Willen einer Maschine zu trotzen. Maschinen waren so gemacht, daß sie auf eine bestimmte Art und Weise wirkten und eine bestimmte Arbeit verrichteten. Und dasselbe galt von dem Vorarbeiter.
Um elf Uhr aber gab es plötzlich eine Störung, und wie durch Zauberei verpflanzte sich die Erregung augenblicklich bis in die entferntesten Winkel. Der einbeinige Knabe, der an der anderen Seite von Johnny arbeitete, schoß zu einem leeren Spulkasten und verschwand mit Krücke und allem darin. Der Fabrikverwalter kam durch das Lokal gegangen, in Begleitung eines jungen Mannes, der gut gekleidet war und ein gestärktes Hemd trug – ein feiner Herr nach Johnnys Einteilung der Menschheit, aber es war ja auch der »Inspektor«.
Er sah die Knaben scharf forschend an, während er an den Webstühlen vorbeiging. Hin und wieder blieb er stehen und fragte nach diesem oder jenem. Wenn er das tat, mußte er laut rufen, und in solchen Augenblicken verzerrte die Anstrengung, sich Gehör zu verschaffen, sein Gesicht geradezu lächerlich. Die leere Maschine neben Johnny entging seinem scharfen Blick nicht, aber er sagte nichts. Johnny zog sich seine Aufmerksamkeit auch zu, und er blieb plötzlich stehen. Er faßte Johnny am Arm, um ihn ein wenig von der Maschine zurückzuziehen, ließ ihn aber mit einem erstaunten Ausdruck wieder los.
»Da sitzt nicht viel Fleisch«, sagte der Verwalter mit verlegenem Lachen.
»Die reinen Pfeifenrohre«, lautete die Antwort. »Sehen Sie die Beine! Der Junge hat die Englische Krankheit – nicht gerade sehr schlimm, aber er hat sie. Wenn er nicht eines schönen Tages Epileptiker wird, dann kommt es daher, weil die Tuberkulose ihn schon vorher geholt hat.«
Johnny lauschte, verstand aber nicht, was der Mann sagte. Dazu kam, daß er sich nicht für die Übel der Zukunft interessierte. Ein gegenwärtigeres und ernsteres Übel drohte in der Gestalt des Inspektors.
»Hör, mein Junge, jetzt mußt du die Wahrheit sprechen«, sagte oder vielmehr rief der Inspektor, indem er sich zu dem Ohr des Jungen beugte, damit er ihn hören konnte. »Wie alt bist du?« »Vierzehn Jahre«, log Johnny, und er log aus voller Kraft seiner Lungen. So laut log er, daß er husten mußte – einen trockenen, quälenden Husten, der die Flocken, die den ganzen Morgen seine Lungen gereizt hatten, löste.
»Er sieht aus, als wäre er wenigstens sechzehn«, sagte der Verwalter.
»Oder sechzig«, erwiderte der Inspektor zornig.
»Er hat immer so ausgesehen.«
»Seit wann?« fragte der Inspektor hastig.
»Seit Jahren. Er wird nie älter.«
»Nein, und jünger auch nicht. Er hat wohl die ganzen Jahre hier gearbeitet.«
»Hin und wieder – aber das war, ehe das neue Gesetz kam«, fügte der Verwalter schnell hinzu.
»Steht die Maschine leer?« fragte der Inspektor und zeigte auf die verlassene Maschine neben der Johnnys, auf der die halbvollen Spulen mit rasender Schnelligkeit herumschnurrten.
»Es sieht so aus.« Der Verwalter machte dem Vorarbeiter ein Zeichen, daß er herkommen sollte, und rief ihm ins Ohr, während er auf die Maschine zeigte. »Die Maschine steht leer«, meldete er dem Inspektor.
Sie gingen weiter, und Johnny kehrte zu seiner Arbeit zurück, erleichtert, weil das große Übel abgewendet war. Aber der einbeinige Knabe war nicht so glücklich. Der Inspektor, der alles sah, zog ihn aus dem Spulkasten hervor und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von sich ab. Die Lippen des Knaben zitterten, und er hatte einen Ausdruck, als wäre er von einem furchtbaren und nicht wieder gut zu machenden Unglück betroffen worden. Der Vorarbeiter sah äußerst verblüfft aus, als hätte er zum ersten Mal den Knaben vor Augen gesehen, während das Gesicht des Inspektors sowohl Erstaunen wie Wut ausdrückte.
»Ich kenne ihn«, sagte er. »Er ist zwölf Jahre alt. Ich habe ihn im letzten Jahre aus drei Fabriken hinausgeworfen. Dies ist die vierte.«
Dann wandte er sich zu dem einbeinigen Knaben. »Du hast mir doch versprochen, zur Schule zu gehen.«
Der einbeinige Knabe brach in Tränen aus. »Bitte, Herr Inspektor, uns sind zwei Kinder gestorben, und wir sind so schrecklich arm.«
»Warum hustest du so?« fragte der Inspektor, als klagte er ihn eines Verbrechens an.
Und als wäre es eine Beschuldigung, von der er sich reinwaschen müßte, antwortete der einbeinige Knabe: »Es ist nichts. Ich habe mich nur vorige Woche erkältet, Herr Inspektor, das ist alles.«
Es endete damit, daß der einbeinige Knabe den Saal mit dem Inspektor verlassen mußte, und hinterher kam der besorgte und protestierende Verwalter. Dann senkte sich die Einförmigkeit wieder über die Webstühle. Der lange Vormittag und der noch längere Nachmittag vergingen, und die Pfeife ertönte als Signal, daß es Zeit war, heimzugehen. Es war schon dunkel geworden, als Johnny das Fabriktor verließ. In der Zwischenzeit hatte die Sonne ihren goldenen Bogen am Himmel beschrieben, die Welt mit ihrer milden Wärme übergossen und war untergegangen und im Westen hinter der unebenen Reihe der Dächer verschwunden.
Das Abendessen war die Familienmahlzeit des Tages – die einzige Mahlzeit, bei der Johnny mit seinen jüngeren Geschwistern zusammentraf. Es war immer eine halb feindselige Begegnung, denn er war sehr alt, während sie so verzweifelt jung waren. Er hatte keine Geduld mit ihrer überströmenden, verblüffenden Jugendlichkeit. Er verstand sie nicht. Seine eigene Kindheit lag allzu weit zurück. Er war wie ein alter, reizbarer Mann, der sich über ihre jugendliche Ausgelassenheit ärgerte, die ihm als vollkommene Torheit erschien. Er verzehrte sein Essen unter düsterem Schweigen und fand Trost in dem Gedanken, daß auch sie bald anfangen müßten zu arbeiten. Das würde sie abschleifen und sie gesetzt und würdig machen – wie er es geworden. Nach menschlichem Brauch machte Johnny sich zu der Elle, mit der er das ganze Universum maß.
Während des Essens erklärte seine Mutter auf verschiedene Art und Weise und mit unendlichen Wiederholungen, daß sie wirklich versuchte, es so gut zu machen, wie sie konnte, und mit einem Gefühl der Erleichterung schob Johnny, als die karge Mahlzeit beendet war, seinen Stuhl fort und stand auf. Er schwankte einen Augenblick zwischen dem Bett und der Haustür und wählte endlich letztere. Er ging nicht sehr weit. Er setzte sich auf die Treppe, zog die mageren Knie ganz hoch, bog die schmalen Schultern nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.
Er dachte nicht. Er ruhte sich nur aus. Seine Gedanken schliefen schon. Seine Brüder und seine Schwestern kamen heraus und begannen um ihn her ein lärmendes Spiel mit anderen Kindern. Eine elektrische Laterne an der Ecke