Nur Fleisch. Jack London
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Sein Bruder Will, der Zehnjährige, der ihm im Alter am nächsten kam, war der Anführer der Bande. Johnny hegte keine sehr freundlichen Gefühle für ihn. Sein Dasein war zeitig verbittert worden durch die ewige Rücksicht, die er auf Will nehmen mußte. Er hatte das ganz klare Gefühl, daß Will ihm allerhand verdankte und recht undankbar war. In der fernen, dunklen Vergangenheit, als er selbst noch spielte, war er vieler seiner Spielstunden beraubt worden, weil er auf Will aufpassen mußte. Damals war Will ganz klein, und damals wie heute hatte seine Mutter ihren Tag in der Fabrik verbracht. Johnny hatte seinem Bruder Väterchen und Mütterchen sein müssen.
Es war, als könnte man Will ansehen, daß alles sich ihm fügen und nach ihm richten mußte. Er war ziemlich kräftig und schwer gebaut, ebenso groß wie sein älterer Bruder und wog noch mehr als er. Es sah fast aus, als wäre das Lebensblut des einen in die Adern des andern übertragen. Und dasselbe galt von ihrem Temperament. Johnny war müde und abgehetzt, ohne die Fähigkeit, sich aufzurichten, während sein jüngerer Bruder einen unbeugsamen, überströmenden Lebensmut zu besitzen schien.
Das Necklied erklang immer lauter. Im Tanze beugte Will sich vor und streckte die Zunge aus. Johnnys linker Arm fuhr hastig vor und packte den Hals des Bruders, während seine knochige Faust gleichzeitig dessen Nase traf. Es war eine traurig knochige Faust; daß sie aber etwas ausrichten konnte, zeigte deutlich der Schmerzensschrei, den der Schlag hervorrief. Die anderen Kinder schrien laut vor Schreck, während Johnnys Schwester Jenny ins Haus lief.
Er stieß Will von sich, gab ihm einen verbitterten Fußtritt gegen das Schienbein, packte ihn dann wieder und stieß sein Gesicht gegen die Erde. Er ließ ihn auch nicht los, ehe er ihm das Gesicht ein paarmal in den Schmutz gestoßen hatte. Dann erschien die Mutter, ein blutarmer Sturmwind von Kummer und Mutterzorn.
»Warum kann er mich nicht in Frieden lassen«, lautete Johnnys Antwort auf ihre Vorwürfe. »Kann er denn nicht sehen, daß ich müde bin?«
»Ich bin ebenso groß wie du«, rief Will wütend in den Armen der Mutter, und sein Gesicht war von Tränen, Schmutz und Blut beschmiert. »Ich bin schon ebenso groß wie du, – und ich werde noch größer. Und dann verkeile ich dich – darauf kannst du dich verlassen!«
»Wenn du so ein großer Junge bist, solltest du wirklich schon arbeiten!« sagte Johnny ärgerlich. »Das ist es eben mit dir, – du solltest etwas tun. Und dafür sollte deine Mutter sorgen – dich arbeiten lassen+...«
»Aber er ist doch noch zu jung«, wandte sie ein. »Er ist doch noch ein kleiner Junge.«
»Ich war jünger als er, als ich zu arbeiten anfing.« Johnny wollte noch mehr sagen, um seinen Gefühlen Luft zu machen, dann aber biß er hastig die Zähne zusammen, machte kehrt, schlürfte ins Haus und ging zu Bett. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, damit er ein bißchen Wärme aus der Küche bekam. Als er sich im Halbdunkel entkleidete, konnte er seine Mutter mit einer Nachbarin sprechen hören, die zu Besuch gekommen war. Seine Mutter weinte, und ihre Worte wurden hin und wieder von einem verzagten Schnaufen unterbrochen.
»Ich kann nicht begreifen, was mit Johnny los ist«, konnte er sie sagen hören. »So ist er noch nie gewesen. Er war immer ein geduldiger kleiner Engel. – Und er ist auch ein guter Junge«, fügte sie schnell zu seiner Verteidigung hinzu. »Er hat brav gearbeitet, und er hat auch zu früh damit angefangen. Aber es war nicht meine Schuld. Ich versuche es so gut zu machen, wie ich kann – das weiß Gott!«
Ein langandauerndes Schnaufen ertönte aus der Küche, und Johnny murmelte bei sich, wahrend seine Augen sich schlossen: »Ja, du kannst dich drauf verlassen, ich habe brav gearbeitet!« Am nächsten Morgen riß seine Mutter ihn buchstäblich aus den Armen des Schlafes. Dann kamen das sparsame Frühstück, die schwere Wanderung durch die Dunkelheit und der bleiche Schimmer des Tages über den Dächern, dem er, durch das Fabriktor schreitend, den Rücken kehrte. Es war ein neuer Tag, ein Tag wie viele andere, denn seine Tage waren alle gleich.
Und doch hatte es Abwechslung in seinem Dasein gegeben – wenn er von einer Arbeit zur anderen übergegangen, oder wenn er krank gewesen war. Mit sechs Jahren war er Väterchen und Mütterchen für Will und die andern, noch kleineren Kinder gewesen. Mit sieben Jahren hatte er angefangen, in den Fabriken zu arbeiten – Garn aufzuspulen. Mit acht Jahren hatte er in einer anderen Fabrik Arbeit bekommen. Seine neue Arbeit war wunderbar leicht. Alles, was er zu tun hatte, war, daß er mit einem kleinen Stock in der Hand einen Strom von Tuch lenken mußte, der an ihm vorbeifloß. Dieser Tuchstrom kam aus einer mächtigen Maschine, ging über eine warme Trommel und dann weiter in andere Gegenden. Johnny saß immer an derselben Stelle, wo das Tageslicht nie hingelangte, und wie er unter einer Gasflamme dasaß, war es, als bildete er selbst einen Teil der Maschinerie.
Trotz der feuchten Wärme war er sehr glücklich bei der Arbeit, denn er war noch jung und hatte seine Träume und Illusionen. Und er träumte wundersame Träume, während er auf das dampfende Tuch sah, das immer weiter an ihm vorbeiströmte, als sollte es kein Ende nehmen. Aber seine Arbeit erforderte keine Bewegung, nichts, was seine Gedanken erregte, und er träumte immer weniger, während seine Seele träge und schläfrig wurde. Dennoch verdiente er zwei Dollar wöchentlich, und die zwei Dollar trennten ihn von akutem Hunger und chronischer Unterernährung. Mit neun Jahren aber verlor er diese Stellung. Die Masern waren schuld daran. Als er wieder gesund war, erhielt er Arbeit in einer Glasfabrik. Der Lohn war höher, und die Arbeit erforderte eine gewisse Tüchtigkeit. Es war Akkordarbeit, und je tüchtiger er war, um so höher war sein Lohn. Hier hatte er einen Ansporn zur Arbeit, und unter diesem Ansporn entwickelte er sich zu einem ausgezeichneten Arbeiter. Es war eine einfache Arbeit – die Befestigung von Glaspfropfen auf kleinen Flaschen. Am Gürtel trug er eine Rolle Bindfaden. Die Flaschen hielt er zwischen den Knien, so daß er mit beiden Händen arbeiten konnte, und in dieser Stellung saß er zehn Stunden täglich, die mageren Schultern hochgeschoben und die Brust eingeengt. Es war nicht gesund für die Lunge, aber er schaffte dreihundert Dutzend Flaschen täglich.
Der Fabrikleiter war sehr stolz auf ihn und benutzte ihn als Schauobjekt für Besucher. Im Laufe von zehn Stunden gingen dreihundert Dutzend Flaschen durch seine Hände. Das heißt, daß er tatsächlich die Vollkommenheit einer Maschine erlangt hatte. Alle Bewegungen, die eine Vergeudung von Kräften bedeuteten, waren beseitigt. Jede Bewegung der mageren Arme, jede Bewegung in den Muskeln der dünnen Finger war schnell und genau. Er arbeitete unter beständigem Hochdruck, und das Ergebnis war, daß er nervös wurde. Nachts arbeiteten seine Muskeln weiter, und am Tage konnte er sich nie von der inneren Erregung befreien und sich ausruhen. Er blieb dauernd bis zum äußersten angespannt, und seine Muskeln arbeiteten weiter. Er wurde gelb und blaß, sein Husten verschlimmerte sich. Da packte Lungenentzündung die schwache Lunge in der eingeengten Brust, und er verlor seine Arbeit in der Glasfabrik.
Hierauf war er zur Jutefabrik zurückgekehrt, wo er zuerst gespult hatte. Aber er sollte bald befördert werden. Der nächste Schritt war die Stärkerei, und dann kam die Webstube. Dann gab es nichts weiter, außer erhöhter Fertigkeit.
Die Maschine lief schneller als zu der Zeit, da er mit der Arbeit begonnen hatte, und sein Gehirn ging langsamer. Jetzt träumte er überhaupt nicht mehr, obwohl er früher viele Träume geträumt hatte. Einmal war er verliebt. Das war in der ersten Zeit, als er begonnen hatte, das Tuch über die warmen Trommeln zu führen, und es war die Tochter des Betriebsleiters, in die er verliebt war. Sie war sehr viel älter als er, ein erwachsenes junges Weib, und er hatte sie nur fünf- oder sechsmal aus der Ferne gesehen. Aber das machte nichts. In dem Tuchstrom, der an ihm vorbeiglitt, sah er beständig strahlende Bilder einer Zukunft, in der er eine phänomenale Arbeit leistete, wunderbare Maschinen erfand, Besitzer der Fabrik wurde und zuletzt die Geliebte in seine Arme schloß und ehrbar auf die Stirn küßte.
Aber das gehörte alles jener fernen Vergangenheit an, ehe er zu alt und müde