Nur Fleisch. Jack London

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Nur Fleisch - Jack London

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gewesen, und er dachte daran zurück, wie Männer und Frauen an die Zeit zurückdenken, da sie an Elfen glaubten. Er hatte nie an Elfen oder den Weihnachtsmann, felsenfest aber an die lächelnde Zukunft geglaubt, die seine Phantasie in den dampfenden Tuchstrom verwebt hatte.

      Er war sehr jung ein erwachsener Mensch geworden – ja, tatsächlich war er es von dem Tage an, als er seinen ersten Wochenlohn erhielt. Da hatte er begonnen, sich unabhängig zu fühlen, und das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter hatte sich verändert. Jetzt, da er selbst Geld verdiente und durch seine eigene Arbeit in der Welt zum Unterhalt der Familie beitrug, war er mehr ihresgleichen. Ein Mann, ein vollentwickelter Mann, war er im Alter von elf Jahren geworden, als er ein halbes Jahr in der Nachtschicht gearbeitet hatte. Kein Kind arbeitet in der Nachtschicht und bleibt dabei Kind.

      Es hatte mehrere große Ereignisse in seinem Leben gegeben. Eines davon war gewesen, wie seine Mutter einige kalifornische Pflaumen kaufte. Die beiden anderen Male hatte sie Creme für die Kinder bereitet. Das waren wirklich Ereignisse gewesen. Er erinnerte sich ihrer mit Freundlichkeit. Und einmal hatte seine Mutter ihm von einem ganz wunderbaren Gericht erzählt, das sie ihnen einmal machen wollte – »Götterspeise« hatte sie es genannt – etwas, das »viel besser als Creme« war. Mehrere Jahre lang hatte er sich auf den Tag gefreut, da er sich an den Tisch setzen und Götterspeise essen sollte – bis er schließlich den Gedanken als eines der unerreichbaren Ideale beiseite schob.

      Einmal fand er fünfundzwanzig Cent auf dem Bürgersteig. Das war auch ein großes Ereignis in seinem Leben – aber ein tragisches. Im selben Augenblick, als er die Silbermünze erblickte, noch ehe er sie aufgehoben hatte, wußte er, was seine Pflicht war. Zu Hause hatten sie wie gewöhnlich nichts zu essen, und er hätte das Geld heimbringen sollen, wie er es an jedem Sonnabend mit seinem Wochenlohn tat. Was in diesem Fall das richtige war, stand fest, aber er hatte sein Geld nie selbst verbrauchen dürfen, und ihn quälte ein wütender Drang, sich Bonbons zu kaufen. Er konnte seine Sehnsucht nach Süßigkeiten, die er bisher nur bei sehr feierlichen Gelegenheiten geschmeckt hatte, kaum beherrschen.

      Er versuchte nicht, sich etwas vorzumachen. Er wußte, daß es Sünde war, und er sündigte mit voller Überlegung, als er ganze fünfzehn Cent für Bonbons gebrauchte. Zehn Cent bewahrte er für eine spätere Ausschweifung auf, da er aber nicht gewohnt war, Geld bei sich zu haben, verlor er es. Das geschah zu dem Zeitpunkt, da er alle Qualen eines schlechten Gewissens litt, und war für ihn der Ausdruck göttlicher Vergeltung. Er hatte das ängstliche Gefühl von der Nähe eines furchtbaren, erbitterten Gottes. Gott hatte es gesehen, und Gott hatte ihn schnell gestraft, indem er ihm einen Teil des Sündenlohnes vorenthielt.

      In der Erinnerung erschien ihm dieses Ereignis immer noch als die einzige große verbrecherische Tat seines Lebens, und wenn er daran dachte, erwachte stets sein Gewissen wieder und quälte ihn. Es war der einzige dunkle Punkt seines Lebens. Seine Veranlagung ließ ihn stets mit Bedauern auf diese Tat zurückblicken. Er war unzufrieden mit der Art und Weise, wie er die fünfundzwanzig Cent verbraucht hatte. Er hätte sie besser ausgeben können, und von der Kenntnis aus, die er später von dem schnellen Eingreifen Gottes erlangte, würde er Gott genarrt haben, wenn er alles Geld auf einmal verbraucht hätte. In Gedanken verbrauchte er die fünfundzwanzig Cent mindestens tausendmal, und jedesmal bekam er mehr dafür.

      Es gab noch eine Erinnerung an die Vergangenheit, unklar und verblichen, aber für alle Ewigkeit seiner Seele durch die grausamen Füße seines Vaters eingehämmert. Es war mehr ein böser Traum als die Erinnerung an etwas wirklich Erlebtes – mehr wie die Rassenerinnerungen der Menschheit, die sich melden, wenn man einschläft, und die zu den Tagen zurückgehen, da die ersten Vorfahren in den Baumwipfeln lebten.

      Diese eine Erinnerung kam Johnny nie in vollem Tageslicht, wenn er ganz wach war. Sie kam des Nachts, wenn er im Bett lag, in dem Augenblick, da sein Bewusstsein ihn verlassen und sich im Schlaf verlieren wollte. Der Schreck machte ihn stets ganz wach, und in dem Augenblick, wenn das erste würgende Gefühl von Angst ihn überkam, war ihm, als läge er quer über dem Fußende des Bettes. Im Bett konnte er undeutlich die Umrisse seines Vaters und seiner Mutter unterscheiden. Er wußte nicht, wie sein Vater ausgesehen hatte. Er hatte nur einen einzigen Eindruck von seinem Vater, und der war, daß er sehr harte und schonungslose Füße hatte.

      Er bewahrte alle Erinnerungen aus seinen frühesten Jahren, aus seinen späteren aber besaß er keine. Ein Tag war wie der andere. Gestern oder vorgestern war dasselbe wie tausend Jahre – oder eine Minute. Es geschah nie etwas. Es gab keine Ereignisse, die den Flug der Zeit angegeben hätten. Die Zeit flog überhaupt nicht. Sie stand immer still. Nur die wirbelnden Maschinen bewegten sich, und die kamen nicht vorwärts – obgleich sie sich mit immer größerer Schnelligkeit bewegten.

      Als er vierzehn Jahre alt war, wurde er in die Stärkerei versetzt. Das war ein ungeheures Ereignis. Jetzt war doch endlich etwas geschehen, dessen man sich länger erinnern konnte, als eine Nacht Schlaf und der Tag, an dem man seinen Wochenlohn ausbezahlt bekam. Es war eine ganz neue Zeitrechnung. Es war eine Epoche in seinem Dasein. »Als ich in der Stärkerei zu arbeiten begann«, oder »nachdem«, oder »bevor ich in der Stärkerei zu arbeiten begann« waren Sätze, die er häufig anwendete.

      Seinen sechzehnten Geburtstag feierte er damit, daß er in die Webstube versetzt wurde, wo man ihn an einen eigenen Webstuhl setzte. Hier hatte er wieder einen Ansporn zur Arbeit, denn es war Akkordarbeit. Und er zeichnete sich aus, weil der Lehm, aus dem er gemacht war, von den Fabriken zur vollkommenen Maschine umgebildet worden war. Und als drei Monate vergangen waren, hatte er zwei Webstühle zu besorgen und später drei und vier.

      Er war noch nicht zwei Jahre in der Webstube, als er schon mehr Ellen produzierte als jeder andere Weber und mehr als doppelt so viel wie die weniger tüchtigen. Zu Hause begannen sich die Verhältnisse auch zu bessern, da er ungefähr den Wochenlohn eines Erwachsenen verdiente. Nicht, daß sein größerer Verdienst ihm je mehr als das Notwendigste verschafft hätte. Die Kinder wuchsen heran. Sie aßen mehr. Sie gingen zur Schule, und Schulbücher kosten Geld. Und wie dem nun war oder nicht war, je mehr er arbeitete, desto höher stiegen die Preise von allem. Selbst die Miete stieg, obwohl das Haus immer mehr verfiel.

      Er war jetzt ausgewachsen, aber er sah magerer aus als je. Er wurde auch nervöser, und seine Reizbarkeit und Verdrießlichkeit nahmen mit seiner Nervosität zu. Aus langer, bitterer Erfahrung hatten die Kinder gelernt, sich in hinreichendem Abstand von ihm zu halten. Seine Mutter achtete ihn, weil er Geld verdiente, aber ihre Achtung vor ihm war gleichsam mit Furcht gemischt.

      Das Leben enthielt keine Freuden für ihn. Er bemerkte nicht, daß die Tage vergingen. Die Nächte verschlief er in zitternder Bewusstlosigkeit. Die übrige Zeit arbeitete er, und in seinem Bewusstsein gab es nichts als Maschinen. Darüber hinaus war sein Hirn ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte kein Ideal und nur eine einzige Illusion – nämlich, daß er ausgezeichneten Kaffee bekam. Er war ein Arbeitstier. Er hatte keinerlei Seelenleben, und doch erfolgte in den geheimsten Winkeln seines Hirns ein Abwägen und Sichten jeder einzigen Arbeitsstunde, jeder Bewegung seiner Hände, jeden Rucks in seinen Muskeln, womit der Grund zu der Tat gelegt wurde, die dereinst ihn selbst und seine ganze Kleinwelt verblüffen sollte. Es war eines Abends im Spätfrühling, als er heimkam und sich ungewöhnlich müde fühlte. Es lag etwas in der Luft, als er sich zu Tisch setzte, aber er beachtete es nicht. Er saß finster und schweigend da und aß ganz mechanisch, was ihm vorgesetzt wurde. Die Kinder machten »hm« und »ah« und schmatzten vor Wohlbehagen. Aber er hörte es nicht.

      »Weißt du, was du da ißt?« fragte seine Mutter schließlich mit dem Mut der Verzweiflung.

      Er sah verständnislos auf den Teller vor sich und dann ebenso verständnislos auf sie.

      »Götterspeise«, erklärte sie triumphierend.

      »Oh«, sagte er.

      »Götterspeise!« riefen alle Kinder im Chor.

      »Oh«,

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