Improvisationstheater. Dan Richter
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Spiel „Verlierer-Ball“
Die Spieler stehen im Kreis und werfen sich einen imaginären Ball zu. Aber statt den Ball zu fangen, verlieren ihn die Spieler. Sie lassen ihn fallen, fangen schlecht usw. Jedes Mal, wenn der Ball fallengelassen wird, applaudiert die Gruppe, und man lobt den Verlierer wie eine stolze Mutter ihr Kind lobt: „Toll gesehen!“ oder „Schön nachgegriffen!“ usw. Es gibt keinerlei Bedauern. Es muss gelobt werden. Der Effekt auf die Stimmung innerhalb der Gruppe ist erstaunlich.
Keith Johnstone5 hat mit seinen Spielen und Formaten das Scheitern wunderbar aufgefangen. Im „Buchstaben-Vermeidungs-Spiel“ dürfen zwei oder mehrere Spieler einer Szene einen Buchstaben nicht benutzen, zum Beispiel „F“.
A: „Ihr Paket. Unterschreiben Sie bitte hier ff…vielmehr hier.“ (Das Publikum lacht, weil es den Spieler ringen sieht.)
B: „Gerne, ach kommen Sie doch herein.“
A: „Oh! … Mademoiselle, sehr gern.“ (Wieder Lachen. Wir sehen, dass er eigentlich „Fräulein“ sagen wollte und im letzten Moment noch die Kurve gekriegt hat.)
B: „Ich liebe Sie, seit Sie das erste Mal an meiner Tür geklingelt haben.“
A: „Das sagen Sie mir erst jetzt. Ich hatte mich schon gefragt … Aaah!“
Und wie in jedem theatersportmäßigen6 Spiel scheitert der Spieler demonstrativ heiter und scheidet aus der Szene aus.
Die Herausforderungen der klassischen Theaterspiele haben an sich oft keinen besonderen dramatischen Wert.7 Sie geben uns aber die Chance, ganz offensichtlich zu scheitern und dieses Scheitern mit Humor zu nehmen. Die Form fängt das Scheitern des Spielers auf, das Scheitern einer Szene, das Scheitern eines Teams. Die Zuschauer erleben im Theatersport einen Pseudowettbewerb und freuen sich sowohl auf die Spiele, die Mannschaften, die Spieler und (hoffentlich) auch auf die eine oder andere gute Story, die wir dort sehen.
Aber was, wenn wir uns künstlerische Ziele gesetzt haben, an denen wir immer und immer wieder scheitern? Was, wenn wir nicht eine Szene, sondern eine Show komplett in den Sand gesetzt haben, wenn Zuschauer, Mitspieler und wir selber davon überzeugt waren, dass die Show einfach übel war? Was, wenn die schlechte Show kein Einzelfall war? Kann man dann nicht seinen Frust ablassen? Darf man dann nicht zornig sein? Können wir nicht mal „unheiter“ scheitern?
Die Frage ist dann zunächst: Was wollen wir überhaupt? Frustpotential entsteht, wenn wir unsere Ansprüche zu hoch ansetzen.8 Wenn ich als Klavier-Dilettant innerhalb eines halben Jahres so klingen will wie Swjatoslaw Richter, werde ich unter Garantie scheitern. Wenn ich mir aber ein erreichbares Ziel setze, schaffe ich mir schneller Erfolgserlebnisse.
Für Improtheater-Anfänger ist es oft schwierig, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen. Sie lieben vielleicht bestimmte Formate, die sie bei anderen Gruppen gesehen haben und verzweifeln, wenn sie diese nicht so gut umsetzen können. Wenn eure Stärke eher in verbaler Comedy liegt, warum solltet ihr dann auf Teufel-komm-raus musikalische Formate auf die Bühne zwingen, nur weil ihr das bei einer anderen Gruppe toll findet. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht, um ein Format bühnentauglich zu meistern. Aber umgekehrt solltet ihr, wenn die Früchte reif sind, nicht zu lange warten. Das Impro-Format beweist sich auf der Bühne. Gebt dem Format auch eine Chance zu scheitern.
Akzeptiert, wenn eine Show scheitert. Es gibt keinen Grund, Trübsal zu blasen. Denn in dem Moment, als ihr euch dafür entschieden habt, Improtheater öffentlich aufzuführen, seid ihr einen Pakt mit dem Impro-Teufel eingegangen: Ihr werdet großartige Momente der Kreativität erleben, ihr werdet euch selbst und einander überraschen, aber der Preis dafür ist, immer wieder mal, aus heiterem Himmel zu scheitern – in den Augen eures Publikums, in den Augen eurer Mitspieler oder vor euch selbst.
2.2Die Falle der Selbst-Etikettierung
„Ich kann nicht singen.“
„Ich assoziiere nun mal etwas langsamer.“
„Im Storytelling bin ich eher schlecht.“
Wer hat nicht schon mal diesen oder ähnliche Sätze gehört? Das Problem ist, dass uns diese Glaubenssätze einsperren. Selbst wenn wir hier und da mit einem kräftigen „Au ja!“ an den Stäben des Käfigs gerüttelt haben, schrauben wir sie durch solche Selbst-Bezeichnungen wieder fest.
Nun zeugt es sicherlich von Bescheidenheit und Selbstreflexion, wenn wir von Zeit zu Zeit unsere eigenen Fähigkeiten einer kritischen Revision unterziehen. Schließlich sind wir erst dann in der Lage, an diesen Fähigkeiten zu arbeiten. Aber es ist ganz und gar kontraproduktiv, sich von vornherein in die Position des „So bin ich nun mal“, zu manövrieren. Denn wenn ich so „bin“, dann hülfe ja alles Lernen und Trainieren nichts.
Manche Impro-Schüler sind dermaßen in dieser Geisteshaltung gefangen, dass sie sich kaum für irgendein neues Spiel, eine Übung oder ein Format einlassen. Man bittet sie auf die Bühne und sie betreten sie mit einer um Mitleid flehenden Miene, die uns sagen soll: „Na, wenn ich unbedingt muss …“ Diese Haltung zu ändern, ist die entscheidende Aufgabe beim Lehren und Lernen von Improtheater.
Aufgrund schlechter Erfahrungen trägt fast jeder ein bisschen etwas von dieser Haltung mit sich herum:
„Ich werde nun mal schnell wütend.“
„In Mathe war ich schon immer schlecht.“
„Ohne Zigaretten würde ich mich niemals richtig konzentrieren können.“
Es ist eine Sache, ein Defizit bei sich zu erkennen und daran arbeiten zu wollen. Es ist etwas anderes, dieses Defizit als unabänderliche Charaktereigenschaft zu bezeichnen:
„Wir sind doch eher eine ruhige Langform-Impro-Gruppe“, wenn der Coach anmerkt, dass die Spieler zu sehr im Nachdenken verharren.
„Mit klassischem Theater kenne ich mich sowieso nicht aus“, wenn es darum geht, sich mal fünfzig Seiten Shakespeare durchzulesen.
„Ich will mich nicht verbiegen, sondern authentisch bleiben.“
Erkenne dich selbst, aber glaube nicht, dass du unveränderbar seist.
2.3Es gibt keine Fehler – Mach was draus
Die Grundhaltung beginnt im Kopf. Ich kann jedes Phänomen in dieser Welt offenherzig oder skeptisch betrachten – egal ob einen Satz, den jemand zu mir spricht, einen Wetterumschwung, ein neues Mittagsgericht. Je skeptischer ich bin, umso unwahrscheinlicher ist es, dass ich mit dem Gesagten etwas anfangen kann, den Regentag freudig nutzen werde, mir das Gekostete schmecken wird. Je offener ich ja sage, um so mehr bin ich in der Lage, den Schwung dessen, was mir angeboten wird, auszunutzen.9
Wenn man es genau bedenkt, kann man im Improtheater gar nichts