Improvisationstheater. Dan Richter
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Nehmen wir faktische Unrichtigkeiten: Angenommen, in einer Szene landen Astronauten auf dem Mars und einer von ihnen behauptet, nun endlich den größten Planeten unseres Sonnensystems besiedeln zu wollen. Die reflexhafte Reaktion vieler Impro-Spieler wird darin bestehen, der Figur des Mitspielers Dummheit oder Wahnsinn anzudichten, etwa, dass wir uns in einer Szene befinden, in der die dümmsten Menschen der Erde auf den Mars evakuiert wurden. Aber so wird jedem klar: Alle markieren nun den Satz des Mitspielers als Fehler. Eine gewandtere Variante wäre, das Ganze als Witz des Astronauten umzudefinieren, aber auch hier würde das Scheitern oder Unwissen des Mitspielers markiert. Am elegantesten wäre es, den Satz überhaupt nicht als Problem aufzufassen. Denn selbst wenn der Mars in unserer Welt nicht der größte Planet ist, so kann es doch in der fiktiven Welt auf der Bühne stimmen. Entweder aus künstlerisch Gründen oder weil wir uns in einem Paralleluniversum befinden.
Es ist die Aufgabe aller Spieler, das Spiel aufrechtzuerhalten, statt Szenen oder Dialoge durch die Markierung oder umständliche Rechtfertigung von „Fehlern“ zu verlangsamen oder gar zu stoppen.10
Wir allein legen fest, was auf der Bühne stattfindet. Und wenn dabei eine Form entsteht, die niemand sonst bisher gespielt hat, so kann das wunderbar oder auch grottig anzusehen sein. Aber ein „Fehler“ ist es sicherlich nicht.
Was Außenstehenden am Improtheater-Spielen so ungewöhnlich erscheint, ist der Umstand, dass wir andauernd mit seltsamen und unvorhersehbaren Angeboten konfrontiert sind, auf die wir reagieren müssen. Das wirkt dann oft so, als seien die Reaktionen wahnsinnig originell, als würden die Spieler pausenlos mit neuen, verrückten Ideen um sich werfen. Dabei geschieht hier in der Regel etwas ganz anderes: Auf den unerwarteten Satz meines Mitspielers reagiere ich mit meiner Offensichtlichkeit. Ich reagiere und führe den Gedanken oder das Spiel mit Gedanken in einer für mich offensichtlichen Weise fort. Aber da diese Offensichtlichkeit eben nur meine Offensichtlichkeit ist, wirkt sie auf andere originell. Sie wird meinen Mitspieler vielleicht überraschen und ihn zu einer Reaktion die für ihn offensichtlich ist, herausfordern.
Natürlich können Szenen so schlecht sein, dass weder die Spieler noch die Zuschauer Freude daran hatten. Damit müssen wir als Improvisierer leben, und ich kenne keinen Impro-Spieler, der durch diese Hölle noch nicht gegangen wäre. Es kann sein, dass wir uns gegenseitig unterstützt haben, unsere Sätze und Gedanken weitergeführt haben, aber das alles endete im großen Nichts. Ein Trost mag sein, dass es im Laufe der Zeit immer seltener passiert. Aber es hat nichts mit „Richtig“ oder „Falsch“ zu tun. Das Einzige, was euch auch dann noch bleibt, ist, euer Scheitern heiter zu nehmen.
2.4Freiheit vor dem Urteil anderer
Die Angst, in der Öffentlichkeit zu sprechen (also das Lampenfieber), gilt im Buddhismus als eine der fünf großen Ängste.11 Sie ist im Prinzip nachvollziehbar: Wir setzen uns dem Urteil anderer aus. Und dieses Urteil kann uns, so sachlich es auch formuliert sein mag, persönlich treffen. Jeder Künstler lebt mit seinen spezifischen Kritik-Ängsten, die teilweise sehr tief sitzen. Tänzer werden für ihren Körper und ihre Bewegungen kritisiert, Sänger für ihre Stimme, Schriftsteller für ihre Sprache. Bei Improtheater-Spielern kommt vieles zusammen. Die Mannigfaltigkeit dieser Kunst – Grazie des Ausdrucks, sinnvoller Inhalt, Bewegung, Timing – all das lässt sich nicht nur genießen, sondern eben auch kritisieren. Als Impro-Spieler müssen wir uns von dieser Angst, die auf subtile Weise selbst den scheinbar lockeren Impro-Profi befällt, befreien. Dafür müssen wir drei große gedankliche Schritte gehen.
Der erste Schritt ist die Annahme, dass das, was ich mache, für mich selber OK ist. Es gibt das Klischee des etwas abgehobenen Künstlers, der sich nicht darum schert, was das Publikum von seinem Werk hält. So wichtig auch die Verbindung zum Publikum ist – eine kleine Prise dieser Abgehobenheit braucht jeder Künstler und jeder Impro-Spieler. Gäbe es sie nicht, hätte sich die Kunst nie weiterentwickelt. Hätten nicht in den 30er und 40er Jahren ein paar besessene Jazz-Musiker die alten Schemata aufgebrochen und dafür in Kauf genommen, vor kleinerem Publikum zu spielen, dann stünde Jazz immer noch auf der Stufe des Dixieland. Als Impro-Spieler weiß ich, dass ich scheitern kann. Aber ich weiß auch, dass ich ein theatrales Ziel verfolge: eine kurze Szene, ein kleines Spiel, eine Langform, eine packende Story. Und allein der Versuch ist es schon wert. Wenn es Zuschauer gibt, die sich das anschauen wollen und sogar Geld dafür bezahlen – umso besser. Wenn es einigen Zuschauern dann nicht gefällt, lohnt es sich, Gedanken darüber machen, wie man das, was man ausdrücken möchte, besser auf der Bühne kommuniziert und wie man sein Handwerk verbessert. Aber selbst erfolgreiche Filme und Bücher finden ihre scharfen Kritiker. Wenn man unsere Show nicht mag, ist das in Ordnung. Die Freude der Spieler ist nämlich ebenfalls ein legitimer Kompass.
Der zweite Schritt besteht darin, dass wir mit Kritik zu leben lernen. Kritik wird uns immer wieder begegnen, sie kann uns weiterhelfen, sie kann uns abstrus vorkommen, vielleicht erkennen wir erst Jahre später ihren Wert. Sie ist jedenfalls Teil der Abmachung „Künstler auf der Bühne“. Wer andere einlädt, ihre Zeit im Zuschauersaal zu verbringen, muss auch damit leben, kritisiert zu werden. Oder anders gesagt: Wer das Lob liebt, kann vor Kritik nicht die Ohren verschließen. Jeder muss lernen, wieviel Kritik er selbst ertragen kann. Ich kenne Kollegen, die nach der Show ihr Gästebuch nach kritischen Eintragungen abscannen, und wenn sie welche gefunden haben, entweder das gesamte Publikum verteufeln oder sich die Kritik dermaßen zu Herzen nehmen, dass sie kaum mehr ruhig schlafen können. Andere lassen Kritik völlig von sich abperlen, egal von wem sie kommt.
Ich denke, dass man sich mit der Zeit ein Immunsystem zulegen kann, das einem hilft, mit Kritik immer besser umgehen zu können. Der erste Trainings-Schritt für dieses Immunsystem besteht darin, Kritik nicht persönlich zu nehmen, selbst wenn sie auf die Person bezogen ist. Jede einzelne Kritik, egal von wem sie kommt – vom Zuschauer in der ersten Reihe, vom Impro-Lehrer, vom Techniker oder vom Pressekritiker – ist eben immer auch nur eine Stimme.
Die Angst vor dem Urteil anderer kann sich, wie wir wissen, sehr konkret äußern, und zwar selbst bei Spielern mit langjähriger Bühnenerfahrung. Zum Beispiel wenn ein Zuschauer im Publikum sitzt, vor dessen Augen wir glänzen wollen. Oder ein Vertreter eines Unternehmens, der unsere Show anschaut, da er mit dem Gedanken spielt, uns für einen hochbezahlten Auftritt zu engagieren. Oder wenn man sich bei einer Improgruppe in einem Vorspiel bewirbt. Das Scheitern wird uns wahrscheinlich in solchen Situationen nicht so leicht fallen wie in einer Show, bei der das missglückte Synchronisations-Spiel vergessen ist, sobald das Publikum wieder „Fünf-vier-drei-zwei-eins-Los!“ gerufen hat. Welche äußere Situation die Angst auslösen kann, mag bei jedem unterschiedlich sein. Wichtig ist, sie zu erkennen und mit ihr umzugehen.
Und so kommen wir zu dem dritten Schritt: Auf der Bühne zählt das alles nichts mehr. So wichtig dir es auch sein mag, in die Impro-Super-Group gecastet zu werden, so wichtig dir auch das Geld oder die Anerkennung sein mögen, die dir in Aussicht gestellt werden – auf der Bühne gilt nur der Prozess des gemeinsamen Erschaffens. Jedes Gunst-Erheischen Richtung Publikum zerstört den Moment. Jede unechte Reaktion kratzt am großen Ganzen. Wenn wir den Geschmack des künstlerischen Leiters, des Geschäftsmenschen oder der einen Person im Publikum, die uns wichtig ist, nicht treffen, so heißt das ja nicht unbedingt, dass wir versagt haben, sondern dass das dann nicht der richtige Augenblick war oder wir tatsächlich nicht zusammen passen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Geld und Eitelkeit unseren Spielfluss hemmen, indem sie sich als Angst in unsere Hirne schleichen.
2.5Wabi Sabi