Improvisationstheater. Dan Richter
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Da wir im Improtheater keine Möglichkeit zur Korrektur haben, müssen wir ebenso wie jede andere improvisierte Kunst mit dem Unperfekten leben. Mehr noch: Wir genießen den Prozess, das Unperfekte zu erschaffen. Und wir genießen es, anderen dabei zuzuschauen.
Was sich aus Wabi-Sabi-Perspektive in der Keramik als unbeabsichtigte hauchdünne Glasur-Riss darstellt, in der Architektur als Patina, in der Malerei als Spuren der Pinselhaare, das ist im Improtheater die kaum wahrnehmbare Geste des Suchens nach dem nächsten Satz, der kleine verstolperte Schritt, der Versprecher und so weiter. Diese Mikro-Fehler sollten wir freilich nicht forcieren (gleichsam um zu zeigen, dass wir improvisierend Fehler begehen), so wie auch der Töpfer seinem Gefäß nicht absichtlich Risse zufügt, um es „auf alt“ zu töpfern.
Das Unperfekte macht die Improvisation menschlich und lebendig. Wenn wir aber wissen, dass Improtheater von Natur aus fehlerbehaftet ist, dass es nie die absolut perfekte Show geben wird, ja nicht einmal die perfekte Szene, dass wir praktisch immer scheitern, manchmal minimal, manchmal grandios, dann brauchen wir uns vorm Scheitern nicht zu fürchten.
Lerne zu scheitern, und lerne deine Perspektive zu verändern. Weg vom Produkt, hin zum Prozess. Das Erschaffen selbst wird das sein, was uns erfreut. Improtheater ist eine flüchtige Kunst. Die Impro-Szene, die man gespielt hat, wird es nie wieder geben. Genauso wenig wie es sich lohnt, eine Szene vorauszuplanen, so wenig brauchen wir einer Szene hinterherzutrauern. Wir werden mal mehr, mal weniger im Moment gewesen sein. Je stärker wir uns auf den Prozess einlassen, umso mehr wird auch unser Publikum diesem Prozess folgen.
2.6Wovor sich Impro-Spieler fürchten
Impro-Spieler sind immer wieder mal von Angst getrieben, auch wenn sie es ungern zugeben. Sie fürchten sich davor,
•unbekanntes Territorium zu betreten,
•vom Publikum beurteilt zu werden
•in der Szene nicht weiterzuwissen,
•vor Veränderung.
Die Liste ließe sich erweitern, aber nach meiner Beobachtung sind dies die wichtigsten Punkte. Schauen wir sie uns einzeln an.
2.6.1Die Angst vor dem unbekannten Territorium
Wenn man eine Weile Improtheater gespielt hat, entwickelt man Antennen dafür, welche Themen sich für eine gute Impro-Szene eignen und welche nicht, welches Spiel ein gutes Abschluss-Spiel ist, mit welchen Sätzen man ein Publikum gut aufwärmt usw. Das kann zu einem wahren Regel-Fetischismus führen. So traf ich einmal auf eine Gruppe, die für sich herausgefunden hatte, dass Synchro-Spiele12 gut funktionieren, wenn handwerkliche Berufe eine Rolle spielen (womit sie ja nicht falsch lagen, da die Körperlichkeit des Handwerks sich für verbale Spiele gut eignet). Irgendwann fuhren sie sich aber derart in dieser Sicht fest, dass sie glaubten, man könne dieses Spiel ohne handwerklichen Beruf überhaupt nicht spielen.
Auf der anderen Seite sorgen Themen wie tödliche Krankheiten oder sexueller Missbrauch mit großer Sicherheit dafür, dass nicht nur ein leichtes Impro-Spiel ruiniert wird, sondern die ganze Show anschließend darunter leidet. Aber heißt das, dass heikle Themen im Improtheater überhaupt nicht zum Gegenstand von Impro-Szenen werden dürfen?
Alles, was das konventionelle Drama (inklusive Film und Theater) darf, dürfen wir im Improtheater auch. Aber wenn wir zum Beispiel das Thema AIDS im Improtheater aufnehmen, sollten wir damit so sensibel und behutsam wie möglich umgehen. Das Problem ist nur, dass wir bei solchen Themen ein viel höheres Risiko des Scheiterns eingehen als wenn wir ein vergleichsweise harmloses Thema wie zum Beispiel einen kleinen Ehestreit behandeln. Eine unangemessene Geste, ein idiotischer Satz können bei diesen heiklen Themen schon genug sein, um der ganzen Show einen Anstrich von Geschmacklosigkeit zu geben oder sie gar abstürzen zu lassen. Die Herausforderung besteht dann vielmehr darin, eine angemessene Form zu finden, so etwas auf die Bühne zu bringen.
Jeder Spieler hat außerdem seine eigenen kleinen „heiklen Themenbereiche“, die einen gewissen Mut erfordern. Aber diesen Mut müssen wir natürlich aufbringen, wenn wir Improtheater zu seinem Recht verhelfen wollen – nämlich tendenziell alles spielen zu können.13
Unbekannte Territorien betreffen nicht nur die Themen, sondern auch die Formen. Wenn man über Jahre gewohnt ist, Storys oder Impro-Formate auf eine bestimmte Art und Weise aufzuführen, glaubt man irgendwann, das ginge nur so und sonst gar nicht. So sind zum Beispiel Storytelling und Bühnenverhalten im Improtheater heutzutage ziemlich film-geprägt. Monologe und Abstraktionen, wie sie im modernen Theater üblich sind, kommen nur an den dafür vorgesehenen Stellen vor. Das Brechen alter Muster in der Improvisation erfordert ebenfalls Mut. Nur wenn wir alte Bahnen verlassen, wenn wir unser gegenwärtiges Spielen immer wieder auf eingeschliffene Muster überprüfen, werden wir unsere Kreativität wirklich freisetzen können.
2.6.2Die Angst vorm Urteil des Publikums
Der Vergleich mit den Mitspielern
Die Show ist vorbei. Das Publikum klatscht begeistert. Verbeugung des Ensembles. Der Applaus brandet noch einmal auf. Dann der Applaus für die einzelnen Spieler.
Tom – Applaus und Jubel.
Sibylle – Applaus, begeisterte Pfiffe.
Lukas – Applaus, begeistertes Stampfen mit den Füßen.
Du – lediglich Höflichkeitsapplaus.
Na? Zwickt es dich? Wenn du diese Situation nicht nur ertragen, sondern wirklich mit Freude genießen kannst, hast du ein großes Impro-Herz.
Nach der Show grübelst du vielleicht, und dir fällt ein: Ja, Tom war am Ende der letzten Story der strahlende Held, der außerdem noch mit seinem Wissen über moderne soziologische Theorie brillierte. Sibylle hat mit ihrem Gesang alle begeistert. Lukas hat fast jede Szene mit einem urkomischen Satz beendet, der für die größten Lacher des Abends gesorgt hat. Was hast du gemacht? Du hast den Helden unterstützt, indem du einen fiesen Gegenspieler etabliert hast. Du hast der Sängerin Platz gelassen, damit ihre Stimme strahlen konnte. Und du hast die Enden für sich stehen lassen, ohne noch etwas vom Lacher abkriegen zu wollen. Mit anderen Worten: Du hast dafür gesorgt, dass die anderen ihr Potential entfalten konnten. Du hast deine ganze Kraft der Show gegeben. Du bist wahrscheinlich ein guter Improvisierer.
Lasst euch nicht vom Applaus verführen. Lasst euch schon gar nicht von Lachern und vom Lob verführen. Haltet eure Eitelkeit im Zaum. Vergleicht euch nicht zu sehr mit euren Mitspielern, und vergleicht niemals das Lob, das sie einheimsen mit dem euren. Denn egal, ob ihr bei diesem Vergleich besser oder schlechter abschneidet als eure Mitspieler, das Vergleichen selbst nährt am Ende doch wieder nur die Eitelkeit.
Die