Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner

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Schöne Ungeheuer - Wilfried Steiner

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Werk automatisch wertlos wäre, wenn ihm nicht bisher unbekannte, am Schauplatz entdeckte Erkenntnisse zugrunde lägen.

      Keine Reise, kein Buch. Die Lähmung ist vollkommen. Und dennoch sammle ich weiter Informationen, die Ordner türmen sich in jeder Ecke meines Arbeitszimmers, keine noch so abseitige Nachricht über mein Thema, die nicht fein säuberlich abgeheftet und zusätzlich in einer von Hunderten Word-Dateien gespeichert wäre.

      An Zeit mangelt es mir nicht. Ich arbeite beim Beobachter, einer mittelgroßen Wiener Zeitung, die jeden Tag aufs Neue an ihrem Anspruch scheitert, der österreichische Guardian zu werden. Dort hat man mir mit den Jahren eine gewisse Narrenfreiheit zugestanden. Mein Beruf wird mit einem von jenen zusammengesetzten Begriffen bezeichnet, deren erster Teil Erwartungen weckt, die der zweite nicht erfüllen kann. Wissenschaftsjournalist. Großer Auftakt, enttäuschender Abgang. Wie Theaterkritiker. Literaturredakteur. Oder Musiklehrerin. „Wenigstens“, pflegte Helga zu sagen, „kein Oxymoron wie katholische Frauenbewegung.“ Sie tröstete mich immer, wenn mich das Gefühl beschlich, ein Versager zu sein. „Wer es nicht zum Künstler oder Wissenschaftler bringt“, sagte sie gern, „wird eben Journalist. Daran ist nichts Ehrenrühriges.“ Ich bildete mir stets ein, in dieser Beschwichtigung eine Portion Verachtung mitschwingen zu hören. Dass sie mich schließlich verlassen hat, scheint diesen Verdacht zu bestätigen. Manchmal denke ich, wenn ich das Buch zu Ende geschrieben hätte, wäre sie vielleicht geblieben.

      Mein Kollege Herbert Schiller, Ressortleiter für Politik und Wirtschaft, der von allen schlicht Herbert genannt werden möchte, war einst ein Journalist der alten Schule. In dieser Zeit waren wir beinahe Freunde. Doch dann geschah etwas mit ihm. Sei es, weil er plötzlich beschloss, Karriere zu machen, sei es, weil er schlechte Berater hatte: Er rutschte ab und tummelte sich plötzlich in jenem geistigen Biotop, dem heute alle modernen Führungskräfte entsprungen zu sein scheinen, die angetreten sind, dem Kultur- und Medienbetrieb dynamische Impulse zu geben: der fabelhaften Welt des Marketing.

      Von dort kommen Menschen, die Worte wie Zielgruppe oder Synergieeffekt aussprechen können, ohne dabei auszusehen, als hätten sie in eine Zitrone gebissen. Sie sagen Sätze wie „leise ist das neue laut“, und der Spiegel, in den sie dabei blicken, zersplittert nicht. Erstaunlicherweise. Sie sitzen in den Vorstandsetagen von Theatern, Zeitungen und Kunstvereinen, erklären den dort vereinzelt noch vorkommenden Dinosauriern, die in Ideen vernarrt sind, dass Inhalt jetzt content heißt, wie man eine corporate identity entwickelt und dass man, sofern man nicht untergehen will, zur Marke werden muss.

      Herberts Verhältnis zu mir ist mittlerweile gespalten. Er ist vor nicht allzu langer Zeit zum Feuilletonchef befördert worden und würde fast alles tun, um dem Chefredakteur zu gefallen, denn sein großes Ziel ist es, zumindest sein Stellvertreter zu werden. Dazu braucht er Verbündete, und ich hätte einer sein können. Es entgeht ihm jedoch nicht, dass ich bei manchen seiner Äußerungen während der Redaktionssitzungen den Eindruck erwecke, als müsse ich gerade eine Wurzelbehandlung über mich ergehen lassen, und er versteht nicht, warum ihn sein alter Freund mit einem Mal so viel Abneigung spüren lässt. Ich vermute, dass er sich manchmal wünscht, ich würde die Zeitung verlassen, doch der Chefredakteur ist der Ansicht, ein exzellentes Feuilleton (er spricht es immer aus wie Fauteuil) brauche eine gute Wissenschaftsseite. Ich nehme an, er kennt niemanden außer mir, der diese Arbeit für einen solchen Hungerlohn erledigen würde. Als kürzlich ein Artikel von mir über die zweifelhafte Beweislage der Inflationstheorie im Spektrum der Wissenschaft zitiert wurde, war es nicht einfach, seinen Gesten des Stolzes zu entrinnen. Also musste mir auch Herbert gratulieren.

      Meine Beziehung zu Herbert ist getragen von der Wehmut, einen gleichgesinnten Mitkämpfer verloren zu haben, und dem Zorn, Zeuge seines Irrweges zu sein und hilflos zusehen zu müssen, wie er dem Moloch der Vermarktung huldigt.

      „Warum kündigst du nicht einfach?“, fragte Helga oft. Ja, warum? Für mich selbst habe ich zwei Antworten: Erstens, mein Kollege kann nichts dafür, dass ich ihn nicht mag. Zweitens, alles wird sich ändern, wenn mein Buch endlich fertig ist.

      Helgas guter Freund Manfred, der seinen Lebensunterhalt mit populärwissenschaftlichen Büchern über Psychologie bestreitet (und ja, er beendet sie, eins nach dem anderen), hatte für mein Leiden einen Namen: Prokrastination. Da ich nicht verhindern konnte, dass wir ihn öfters zum Essen zu uns nach Hause einluden, durfte er mir seine Diagnose an meinem eigenen Küchentisch servieren.

      „Das unnötige Aufschieben von Projekten, die man sich vorgenommen hat, die ständige Unterbrechung, das Sich-Verzetteln“, dozierte er einmal, „ist weit verbreitet. Und das häufig trotz vorhandener Gelegenheiten und Fähigkeiten, wie bei dir!“ Mir war nicht ganz klar, ob er Wikipedia zitierte oder einen seiner eigenen Psycho-Ratgeber. Ich senkte den Kopf, aber nicht wie ein ertappter Klient, eher wie ein Stier, bevor das Gatter geöffnet wird, und umklammerte die Stoffserviette, um meine Hände von anderen, gesellschaftlich weniger akzeptierten Tätigkeiten abzuhalten.

      „Siehst du?“ Helga schaute mich triumphierend an.

      Diese Frage fällt mir auch immer ein, wenn ich über Helga und Manfred nachdenke. Ich glaube nicht, dass sie in ihn verliebt war. In meiner Deutung war er genau das: ein Siehst-du-Freund, der immer dann herhalten musste, wenn Helga wieder einmal an meiner Therapieresistenz verzweifelte. Siehst-du-Freunde oder -Freundinnen sind in Beziehungen von enormer Wichtigkeit, man kann sich nach ihren verständnisinnigen Worten zurücklehnen, den Partner schweigend betrachten und hoffen, dass der unabhängige Blick von außen einen Veränderungsprozess in Gang setzt. Solche Zeilen würde ich schreiben, sollte ich jemals einen Ratgeber publizieren müssen, wovor mich das Schicksal bewahren möge.

      Am 30. Juni 1908 gegen 7:15 Uhr Ortszeit fand im sibirischen Jenisseisk in der Nähe des Flusses Steinige Tunguska ein Ereignis statt, das die Welt so noch nicht gesehen hatte. Augenzeugen berichteten von mehreren hellen Lichtblitzen, einem blauweiß leuchtenden Objekt, das vom Himmel fiel, einem Sternschnuppenregen bei Tag, mehreren (bis zu vierzehn) Explosionen, die noch in fünfhundert Kilometern Entfernung wahrgenommen werden konnten, ebenso wie gleißende Feuersäulen. Ein alter Mann erzählte von einem steten Brummen, das immer lauter geworden und schließlich zu einem Grollen und Scheppern angeschwollen sei. Der Sternregen wurde immer intensiver und ließ die Sonne verblassen. Dann folgten die Blitze, so hell, dass nichts mehr sichtbar war außer dem Licht, gefolgt von einem ungeheuren Knall und einem Beben, das die Erde durchlief. In einem Umkreis von tausend Kilometern hörte man die Explosion, seismologische Stationen in Irkutsk, Tiflis, Jena und sogar in Washington und Potsdam zeichneten Erschütterungen auf. Es zeigte sich, dass die Druckwelle den Globus einmal umrundete. Ein ähnliches Phänomen gab es nur 1883 bei der Eruption des Krakatau. Über die Stärke der Detonation scheiden sich die Geister. Russische Wissenschaftler errechneten, dass sie der Energie von tausend Atombomben des Hiroshima-Typs entsprochen haben müsste.

      Auf einer Fläche von über zweitausend Quadratkilometern wurden Schätzungen zufolge sechzig bis achtzig Millionen Bäume entwurzelt. Überraschenderweise waren im Epizentrum die Bäume zwar verkohlt, aber nicht umgeknickt. Aufrecht und schwarz hatten sie dem Feuersturm widerstanden, während ihre Zweige und Blätter binnen Sekunden verglüht waren.

      Da die Region dünn besiedelt war, gibt es keine verlässlichen Opferzahlen. Manche sprechen von Hunderten verbrannten Rentieren, von Hirten, die samt ihren Zelten durch die Luft geschleudert wurden. Eine Quelle berichtet von zwei getöteten Menschen. An anderer Stelle heißt es: „Jemand brach sich den Arm, es gab einige blaue Flecken, und ein alter Mann starb vor Schreck. Ein günstigeres Verhältnis von Ausmaß der Katastrophe zu Anzahl der Verletzten wird man lange suchen müssen.“

      In den folgenden drei Nächten war der Himmel hell erleuchtet, nicht nur am Ort des Geschehens, sondern weit darüber hinaus. Im fernen London konnte man mitten in der Nacht Zeitung lesen, im schottischen St. Andrews absolvierten einige stoische Golfspieler um drei

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