Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner
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Nach mehreren Wochen, gezeichnet von Schwäche und Krankheiten, stoßen die Forscher auf ein besonders stark zerstörtes Gebiet. Langsam bekommt Kulik eine Ahnung, welches Ausmaß das Ereignis neunzehn Jahre zuvor gehabt haben muss. Und er entdeckt etwas, das ihn verblüfft: Mitten im Kreis der Verwüstung stehen einige Bäume aufrecht. Ihre Äste und Blätter sind verschwunden, das Feuer hat ihre Rinde geschwärzt. Wie geteerte Telegrafenmasten ragen sie zum Himmel. Näher vermag man der Stätte des Einschlags nicht zu kommen.
Wie kann es sein, dass selbst hier keine Spuren eines Impaktors zu sehen waren?
Trotzdem ist Kulik davon überzeugt, dem Beweis für seine Meteoritentheorie ganz nahe zu sein. Doch er muss das Unternehmen vorerst beenden, die Vorräte werden knapp.
Im Herbst 1927 treffen Kulik und seine Mitreisenden in Leningrad ein. Er kommt mit leeren Händen und befürchtet ein Ende des Geldflusses der Akademie. Zu seiner großen Überraschung lösen seine Berichte aber nicht nur in Russland, sondern auch in London und New York ein gewaltiges Medieninteresse aus. Von Forschungsstationen der ganzen Welt treffen Messdaten und Aufzeichnungen von seismischen Wellen aus dem Jahr 1908 ein, die bisher niemand zuordnen konnte. Kulik hält Vorträge und fesselt sein Publikum mit einem apokalyptischen Szenario:
„Wäre der Meteorit um nur vier Stunden und achtundvierzig Minuten früher niedergegangen“, sagt er, „so hätte im Explosionszentrum das damalige St. Petersburg gelegen und niemand weiß, was dann davon übriggeblieben wäre.“
Die Akademie finanziert eine neue Expedition, sie dauert mehrere Monate, doch Kulik findet nichts Neues. Er weiß nun: Er muss es mit Tiefenbohrungen versuchen. Irgendwo unter der sibirischen Erde liegen Bruchstücke des Himmelskörpers, das weiß er ganz genau! Er kehrt nach Leningrad zurück; mit dem Mut der Verzweiflung rüstet er eine weitere Erkundungsreise in das Absturzgebiet aus. Mit den besten Bohrern, die die damalige Technik zu bieten hat. Es gelingt ihm, mit diesen Geräten bis zu vierunddreißig Metern Tiefe vorzudringen. Und er entdeckt: nichts. Nichts von dem, was er finden hätte müssen, wenn es schon keinen Krater gibt – vermehrte Eisen-, Nickel- und Iridium-Vorkommen. Die klassischen Bestandteile eines Geschoßes aus dem All.
So unermüdlich er auch gräbt: nichts.
Er bricht ab.
Niedergeschlagen und ausgezehrt trifft er in Moskau ein. Nun erheben die Kritiker ihre Stimmen: Man könne an der Meteoritentheorie nicht länger festhalten. Es müsse ein Komet gewesen sein, der einige Kilometer oberhalb des Bodens detoniert sei. Ein Komet würde sowohl die Beobachtungen des „Feuerballs“ erklären, als auch die Tatsache, dass keine Impaktorspuren auffindbar seien, da er ja vor dem Aufschlag explodiert sei. Kulik lässt sich davon nicht überzeugen. Die neue These, so findet er, ignoriere die Brandspuren an den Bäumen.
1938 beauftragt er ein Unternehmen, Luftbilder der Region aufzunehmen. Die Fotos sind wunderschön, die Zone der Verwüstung hat die Form eines Schmetterlings. Wissenschaftlich aussagekräftig sind die Ergebnisse nicht.
1941, nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, meldet sich Leonid Alexejewitsch Kulik zu einer Reservetruppe. Er gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lager bei Spas-Demensk deportiert.
Am 24. April 1942 stirbt er dort an Typhus.
Sein Rätsel ist noch immer nicht gelöst.
DREI
Herbert Schiller empfing mich in seinem Büro mit einem gönnerhaften Lächeln.
Es war kein protziges Büro, das war meinem Kollegen (oder Vorgesetzten? – ich gewöhnte mich nur widerwillig an den Gedanken) zugutezuhalten. Auch an der Mär – gerne verbreitet von uns sogenannten kritischen Redakteuren –, er hänge vor wichtigen Besprechungen ein Dollfuß-Porträt hinter sich an die Wand, war nichts dran.
Sein braunes Haar neigte zu verspielter Lockenbildung und ließ ihn jünger aussehen, einzig die Schläfen waren ergraut. Aber da spross nichts ungezähmt in alle Richtungen, wie es bei Schläfenhaaren üblich ist; sie waren sorgfältig gekappt, begrenzt und beschnitten, sodass unschwer zu erkennen war, wie viel Mühe jeden Morgen in ihre Gestaltung floss. Zwei silberne Beete. Wenn mich sein Redeschwall in die halbbewussten Zonen der Tagträume driften ließ, sah ich manchmal Bewegungen in seinem Gesicht, sah, wie zwei zentimeterhohe französische Gärtner die Haarflächen mit winzigen Nagelscheren zu Rechtecken trimmten, deren Winkel auch unter dem stärksten Mikroskop exakt neunzig Grad betrugen. Irgendjemand musste ihm einmal den Floh ins Ohr gesetzt haben, Frauen jeden Alters fänden solche Insignien kontrollierter Weisheit unwiderstehlich.
Herbert begann in feierlichem Ton.
„Georg, du weißt, was deine Arbeit für unsere Zeitung bedeutet.“
„Ich seh’s jeden Monat auf dem Gehaltszettel.“
Herbert spielte Erstaunen. „Aber Georg, sag bloß nicht, dass dich der Materialismus in seine Klauen bekommen hat. Dich, den reinen Helden der Wissenschaft?“
„Lass das, Herbert“, brummte ich. „Was willst du?“
„Schlecht geschlafen heute? Aber deine Stimmung wird sich bald heben. Ich habe einen neuen Auftrag für dich.“
„Das klingt nicht gut.“
Herbert ignorierte diesen Satz.
„Du hast sicher vom Fall Jan Koller gehört.“
Hatte ich nicht.
„Er ist letzte Woche in Linz ermordet worden. In der Nacht vor einem großen Kongress.“
„Kriminalfälle interessieren mich nicht“, sagte ich brüsk.
„Du wärst aber der ideale Berichterstatter.“
Ich benötigte einige Sekunden, bis ich begriffen hatte, was er meinte.
Empört sprang ich auf.
„Du willst mir jetzt nicht allen Ernstes verkünden, dass ihr mich als Gerichtsreporter einsetzen wollt? Nur weil der Chef zu geizig ist, mehr Personal einzustellen? Aber nicht mit mir!“
„Beruhig dich doch, Georg!“ Herbert hielt mir seine offenen Handflächen entgegen. „Bist du nicht ein bisschen zu alt, um hier ständig den Oberrevoluzzer zu geben?“
„Zu alt?“, knurrte ich. „Denk an Chomsky.“
„Nun, der arbeitet, Gott sei’s gedankt, nicht in unserer Redaktion.“ Herberts freundliche Grübchen erschienen auf seinen Wangen. „Außerdem gibt es noch gar keine Verhandlung.“
Ich nahm wieder Platz.
„Was willst du dann von mir? Und warum ich?“
„Du