Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner
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Manfred vertrat die Meinung, meine Fixierung auf den alten Knall, wie er das Ereignis nannte, hänge mit einem verdrängten Erlebnis in meiner Kindheit zusammen. Irgendetwas ganz Frühes, Schreckliches, das sich der kleine Bub nicht erklären konnte und das sein Vertrauen in die Welt quadratkilometerweit einknicken ließ. „Die plötzliche Abwendung der Mutter“, sagte er leise, als könnte mich die unerbittliche Wahrheit seiner Worte aus der Bahn werfen, „kann bei einem Kleinkind zu einer Todeserfahrung werden. Als Erwachsener suchst du nun auf einer verschobenen Ebene nach einer Erklärung für diesen Schock.“ Er lehnte sich zurück und legte die Fingerkuppen aneinander. Mein Blick suchte das scharfe Steakmesser, es lag in Reichweite, doch am Ende siegte wie immer die Vernunft und Manfred behielt seine Finger.
Helga betrachtete mich in solchen Momenten mit einer Mischung aus Empathie und Ungeduld. Einerseits war ich der bemitleidenswerte, schon als Baby traumatisierte Neurotiker, andererseits der renitente Starrkopf, der sich weigerte, Hilfe anzunehmen. Helga durfte auf eine wohlbehütete Kindheit zurückblicken, stets war sie von verständnisvollen Eltern verhätschelt und gefördert worden, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Selbstbewusst, bildschön und klug, wie sie war, wurde sie von allen auf Händen durchs Leben getragen. Schon mit dreißig war sie leitende Chemikerin in einem angesehenen Konzern. Durch ihre regelmäßigen Besuche in allen möglichen Fitnesszentren sah sie fünfzehn Jahre jünger aus als ich, obwohl der Altersunterschied nur fünf Jahre betrug. Einzig bei der Partnerwahl hatte sie danebengegriffen.
Was genau der Grund war, warum sie mich letztlich verließ, darüber kann ich nur spekulieren. Ich hätte es in unserem sogenannten letzten Gespräch gerne herausgefunden, doch für Helga war alles so klar gewesen, dass sie es für unnötig gehalten hatte, ihre Motive im Detail vor mir auszubreiten.
„Aber du weißt es doch, Georg“, hatte sie gesagt.
Nachdem sie ausgezogen war, wartete ich auf den großen emotionalen Einbruch. Doch er kam nicht. Zwar vermisste ich sie in manchen Momenten; der tiefe Abgrund jedoch, in den ich zu stürzen fürchtete, tat sich nicht auf. Vielleicht ein weiterer Beweis für meine mangelnde Gefühlstiefe.
Möglicherweise hing es damit zusammen, dass meine innere Grundhaltung, für den Rest der Welt – aber besonders für Helga – eine Zumutung zu sein, sich allmählich auflöste. Oder nein, das stimmt nicht ganz. Ich saß abends auf dem Balkon, eine Zigarette in der Hand, ein Glas Wein vor mir auf dem Campingtisch, und empfand mich immer noch als Zumutung. Aber nur für mich selbst.
Manfred hätte das sicher als eine besonders perfide Form des Narzissmus interpretiert. Doch er war weg. Nie wieder musste ich ein Steak vor ihn hinstellen, mit dem gequälten Lächeln des Gastgebers wider Willen.
Nur Helgas Parfum in den Polstern hielt sich lange, gegen alle Naturgesetze.
Eine Art zerbrechliche Selbstgenügsamkeit stellte sich ein. Sollten die Tage doch hingehen, wie sie wollten.
Die große Veränderung stellte sich erst ein, als Herbert mich mit verschwörerischer Miene in sein Büro bat. Das war unüblich. Ging es etwa um so lebenswichtige Angelegenheiten wie einen Relaunch des Layouts?
Weit gefehlt.
Alles fing an.
ZWEI
Die ersten Forschungen am Schauplatz begannen erst neunzehn Jahre später.
In einer alten sibirischen Zeitung, die ihm 1921 zufällig in die Hände fiel, entdeckte der Meteorologe und Meteoritenforscher Leonid Alexejewitsch Kulik einen Bericht, der seine Neugier entfachte: Er las über eine rätselhafte Himmelserscheinung. Im Jahr 1908 sei in der Nähe der Ortschaft Kansk in Ostsibirien ein riesiger Brocken auf die Erde gestürzt. Es gebe zahlreiche Zeugen. Sogar Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn, deren Trasse Hunderte Kilometer vom Einschlagsort entfernt verlief, hätten ein Zittern der Schienen und ein Schlingern der Waggons wahrgenommen. Einige sprachen von einem rotglühenden Objekt, das aus dem Boden der Taiga ragte. Professor Kulik wusste sofort, was geschehen war.
Im Herbst 1921 brach er auf, die Zeitung im Gepäck. Mit der Transsibirischen Eisenbahn reiste er durch den Ural und über Krasnojarsk 4800 Kilometer weit bis nach Kansk. Was er fieberhaft suchte, waren ein Einschlagkrater und Spuren des Meteoriten in der Erde. Er sprach mit zahllosen Einheimischen, notierte jeden noch so geringen Hinweis, verteilte Fragebögen und untersuchte den Boden Quadratmeter für Quadratmeter.
Doch da war nichts. Hatte er sich geirrt? Davon wollte er nichts wissen.
Er stöberte in Archiven und fand weitere Zeitungsberichte. Daraus schloss er, dass er sich am falschen Platz befand. Sechshundert Kilometer zu weit südlich. Der Himmelskörper musste woanders eingeschlagen sein, in der Nähe des Flusses Steinige Tunguska.
Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt sprühte er vor Enthusiasmus. Nichts auf der Welt würde ihn davon abhalten, eine Expedition zu diesem Ort auszurichten.
Außer den Behörden.
Obwohl er einen angesehenen Posten am Mineralogischen Museum in Petrograd bekleidete und wegen seiner revolutionären Aktivitäten gegen den Zar über einen guten Ruf im Sowjetstaat verfügte, schlug seinem Vorhaben Misstrauen entgegen. Die Akademie der Wissenschaften reagierte zurückhaltend. Was sollte das sein, ein Meteoriteneinschlag in der Taiga, von dem man in Moskau oder Petrograd noch nie etwas gehört hatte? Außerdem misstrauten die Professoren den rückständigen Naturvölkern in der Region, ihren seltsamen Schamanen, die mit Hilfe von Fliegenpilzen durch die Zeit reisten und ihre Ahnen besuchten, ihren Naturreligionen, die sie auch in der atheistischen UdSSR weiter pflegten. Mit amanita muscaria im Blut ist es nicht so abwegig, Feuerbälle durch die Luft fliegen und rotglühende Trümmer in der Erde stecken zu sehen.
Doch Leonid Kulik war kein Mann, der leicht aufgab. Als leidenschaftlicher Lyriker wusste er, dass man seinen Inspirationen trauen musste. Seine Besessenheit ebnete ihm schließlich den Weg. Einige einflussreiche Wissenschaftler, angesteckt von seiner Begeisterung, setzten sich für ihn ein, und die Akademie bewilligte das Projekt doch noch.
Im März 1927 startet die Expedition. Es ist die Zeit der Schneestürme, nur mühsam kommen die Pferdeschlitten voran. Erst Wochen später erreichen sie ihre erste Station: das Handelsdorf Wanawara. Hier sollen die Druckwellen Häuser abgedeckt, Fenster und Türen eingedrückt haben. Entfernung vom geschätzten Epizentrum: fünfundsechzig Kilometer. Wieder beginnt er mit seinen Befragungen. Die Menschen erweisen sich als wenig hilfsbereit, fast als hätten sie Angst, dass sie das Unglück erneut heraufbeschwören könnten, wenn sie darüber sprächen. Sie erzählen vom Feuergott Agdy oder Ogdy, der vom Himmel herabsteigt, wenn man ihn verärgert.
Doch immerhin erfährt Kulik, dass der Hauptort der Verwüstung weiter nördlich liegt. Rentierhirten vom Volk der Tungusen hätten die Explosion aus nächster Nähe beobachten können. Kulik und sein Tross ziehen weiter nach Norden. Auch die Tungusen sind misstrauisch und halten sich bedeckt. Mit viel Verhandlungsgeschick schafft es Kulik, einen alten Hirten als Vertrauten und Führer zu gewinnen. Der erzählt ihm, was er erlebt hat:
„Ich stand“, sagt er, „in einer grell erleuchteten heißen Nacht.“ Später habe er die blauweiß leuchtenden Fäden am Himmel gesehen, wie Leuchtspurraketen, nur viel, viel heller. Es sei wie ein langsamer Sternregen, ein Sternschnuppenregen bei Tag gewesen. In einem Moment sei es ihm erschienen, als husche ein ungeheures Licht über die Sonne, das sie für einen Augenblick überblendete. Am Ende seien Blitze aufgeflammt, gefolgt von hellem Donnern, das ihm beinahe das Trommelfell