Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner
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Jetzt grinste mein Gegenüber. „Du weißt erstaunliche Details über ein Buch, das du nicht gelesen hast.“
Er hatte mich erwischt. „Alles Allgemeinbildung“, entgegnete ich. „Schon eine viel geringere Masse an Antimaterie könnte bei einem Einschlag auf der Erde –“
Ich stockte.
Herbert beugte sich nach vorn und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte.
„Kann es sein“, begann er langsam, „dass der Nebel von Tunguska mittlerweile auch deine Intelligenz umhüllt?“
Etwas Unverschämtes lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte es hinunter.
„Gut“, sagte ich, „also ein Brieföffner. Was gibt es sonst noch Geheimnisvolles?“
„Der Zeitpunkt der Tat. Die Karpova hat beim Verhör angegeben, sich nicht mehr genau zu erinnern. Zwischen 21 und 22 Uhr, sagt sie. Laut Forensik ist der Tod aber erst um 23 Uhr 30 eingetreten.“
„Kann man das so genau feststellen?“, fragte ich.
„Die Gerichtsmedizinerin sagt, der Stich war so exakt, dass Koller sofort tot war. 23 Uhr 30, plus minus eine halbe Stunde.“
„Eine sehr vergessliche Mörderin.“
„Das kann man wohl sagen. Sie behauptet, in der Aufregung –“
„Also doch ein Schock“, unterbrach ich Herbert. „Wann hat die Zeugin Frau Karpova gesehen?“
„Sie kann sich nicht mehr genau erinnern. Zwischen 21 Uhr und 23 Uhr 30, schätzt sie, sie habe nicht darauf geachtet. Ein bisschen groß, dieses Zeitfenster, finde ich. Und es gibt noch ein Detail.“
„Jetzt bin ich aber gespannt.“
„Keine Fingerabdrücke auf dem Griff.“
„Im Ernst?“ Ich musste lachen und mimte den Verblüfften. „Im Fernsehen tragen die Täter meistens Handschuhe.“
Herbert drehte sich auf seinem Sessel einmal um die eigene Achse. Dann stand er auf, hob die Mappe vom Tisch und hielt sie mir hin.
„Das genügt für heute“, sagte er. „Wir reden weiter, wenn du damit durch bist.“
Ich steckte das Dossier in meine Umhängetasche und verließ ohne ein weiteres Wort Herberts Büro.
VIER
Zu Hause legte ich mich aufs Sofa, knipste die Leselampe an und vertiefte mich in das Dossier Jelena Karpova.
Ihre Eltern und ihr Großvater hatten das ostsibirische Krasnojarsk 1984 verlassen und waren mit ihrer damals zweijährigen Tochter Jelena nach Wien gezogen. Ihr Vater, Nikolai Karpov, war in der Sowjetunion ein angesehener Physiker gewesen und erhielt nach dem Umzug überraschend schnell einen Lehrstuhl an der Universität Wien. Immer wieder war er als Gastprofessor nach Genf eingeladen worden. Ab 2007 bekleidete er einen hohen Posten am CERN. Er starb vorige Woche an einem Herzinfarkt, im Alter von sechsundsechzig Jahren. Ekaterina, die Mutter, geboren 1960, war bildende Künstlerin und hatte bereits mehrere Ausstellungen in Wiener Galerien vorzuweisen. Die Feuilletons (auch unseres, übrigens) priesen sie als Erneuerin der abstrakten Malerei. Eine perfekt geglückte Integration auf der ganzen Linie. Nur wenige Misstöne. Nikolai war nachgesagt worden, er hätte gute Kontakte zum KGB, doch das waren Gerüchte. Es gab auch Anzeichen, dass er immer wieder in Konflikte mit den staatlichen Autoritäten geraten war. Einen Hinweis darauf, warum er ausgerechnet 1984, als Konstantin Tschernenko an der Macht war, mit seiner Familie das Land verlassen hatte, konnte ich in den Papieren nicht finden. Im Jahr 1995 ließen sich Nikolai und Ekaterina scheiden.
Jelena war 1982 zur Welt gekommen, war also jetzt siebenunddreißig Jahre alt. Sie galt als hochbegabt und hatte bereits mit siebzehn Jahren begonnen, Technische Physik zu studieren. Sie vermied es, Lehrveranstaltungen zu besuchen, die ihr Vater hielt. Mit knapp zweiundzwanzig Jahren schloss sie ihr Studium mit dem Doktortitel ab. Sie spezialisierte sich auf Experimentalphysik, vertiefte ihre Kontakte in die Schweiz, wobei sie stets betonte, dass ihr Vater sie nicht protegiert hatte. Als am 8. August 2008 die ersten Protonen in den Large Hadron Collider des CERN geschossen wurden, waren Nikolai und seine Tochter mit dabei. Erst 2018 verließ Nikolai das CERN und ging zurück nach Wien. Rasch stieg Jelenas Ansehen am Institut, sie veröffentlichte wichtige Aufsätze und allerorten schwärmte man von ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten. Darüber hinaus attestierte man ihr, besonders teamfähig und kommunikativ zu sein. Es dauerte nicht lange, bis sie die Karriereleiter nach oben stieg – und niemand schien ihr den Erfolg zu missgönnen. Mittlerweile waren vier Bücher von ihr erschienen, die alle in der Fachwelt hitzig diskutiert worden waren und sie zu einer der meistzitierten Physikerinnen der Gegenwart gemacht hatten. Das war sie also: Jelena Karpova, jung, blitzgescheit, auf dem Weg nach oben, leidenschaftlich ihrer Berufung folgend, dazu noch everybody’s darling.
Und nun sollte sie in Linz einen Kollegen getötet haben. Einen, der in Genf beinahe Tür an Tür mit ihr gearbeitet hatte. Eine Tat ohne jegliches Motiv. Ausgeführt mit einem Brieföffner.
Wenn sie es denn war.
Ich brauchte eine Pause. Wie zum Trotz gegen meinen Chef beschloss ich, den Rest des Tages mit meiner Obsession zu verbringen und wieder in die Nebel von Tunguska abzutauchen.
Unter Dutzenden Schlagwörtern sammelte ich Berichte, wissenschaftliche Artikel, Zeitungsausschnitte und allerlei Kurioses in altmodischen Aktenordnern. Auf den Rückenschildern hatte ich verschiedene Begriffe notiert, zum Beispiel „Eiskomet“, „Antimaterie“ oder „Rettendes Raumschiff“. Unter den Buchstaben klebten Bilder, zur rascheren Unterscheidung. Den Rücken von Kuliks Ordner zierte ein Schwarz-Weiß-Foto von hingestreckten Baumstämmen, das er selbst aufgenommen hatte. Auf der Sammlung mit den meisten eingehefteten Zetteln prangte eine Figur aus den Simpsons. Sie war mehrmals in der Serie aufgetreten und trug über dem Kopf einen Karton, auf den ein Fragezeichen gemalt war.
Was ich mir von all dem erwartete? Nun, ich weiß es nicht. Nur aus Versatzstücken besteht die Geschichte des Lebens, es gibt keine Kohärenz. Hat einmal jemand gesagt, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Die vom Einzelnen erfassbare Welt hat keinen dramaturgischen Bogen, sie ist ein Sammelsurium aus beiläufig erzählten Anekdoten. Was mich tröstet, ist vielleicht der Gedanke, dass meine eigene Erzählung aus ebenso vielen Bruchstücken besteht wie der Stein- und Eisenhaufen aus dem All, von dem wir nicht wissen, ob es ihn jemals gegeben hat. Nur in der Zersplitterung können wir die Fiktion der Gesamtheit erfassen, oder widerlegen, oder was auch immer.
„Komm ins Bett, das bringt doch nichts“, sagte Helga, wenn ich zu lange über meinen Zetteln hockte.
Was genau daran nichts brachte, und in Bezug worauf, das konnte sie mir niemals erklären. Wenn ich dann endlich zu ihr kam, schlief sie schon tief. Meine Chemikerin, fest eingebettet in ihr Gefüge aus Formeln, Geborgenheit und Lebenslust.
Sie hatte nie eine Ahnung, wie sehr ich sie beneidete.
FÜNF
Am folgenden Vormittag befiel mich im Büro eine Nervosität, die ich mir nicht erklären konnte.