Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen. Lisa Lamp
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Kurz blieb der Blick der Ältesten an mir haften, bevor sie sich umdrehte und einen Schlüssel aus der Schublade des Schreibtischs holte.
»Bitte schön«, wisperte sie und drückte mir einen kleinen silbernen Schlüssel in die Hand.
Ihre Finger umfassten mein Handgelenk und ihr Blick lag ungewöhnlich lang auf mir, bevor sie sagte: »Wir hoffen, dass du dich hier wohl fühlst. Marie wird dir bei allem helfen, wenn du Hilfe brauchst. Wende dich einfach an sie.«
Das war der Moment, in dem ich endlich wusste wie die Chooserin, die mir alles genommen hatte, hieß. Endlich hatte ich für das personifizierte Böse in meinem Leben einen Namen.
Marie sah mich aufmerksam an, machte auf dem Absatz kehrt und deutete mir an, ihr zu folgen. Natürlich hätte ich jetzt schreien, weinen und fluchen können. Ich hätte toben und von der Direktorin verlangen können, dass sie mich nach Hause brachte, doch jetzt war ich schon einmal hier und es bestand die Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu überstehen. Also folgte ich Marie auf Schritt und Tritt, während die schwarze Katze sich immer wieder zwischen meinen Beinen hindurchschlängelte und mein Knöchel mich fast umbrachte. Bei jeder Bewegung fühlte ich mein Fußgelenk pochen, aber ich ging einfach weiter, als wäre nichts.
»Süß. Woher hast du sie?«, fragte mich Marie und ich sah sie verwirrt an.
Augenrollend deutete sie auf das schwarze Tier zu meinen Füßen und bückte sich, um die Katze zu streicheln.
»Sie gehört nicht mir«, beharrte ich auf meinem Standpunkt und versuchte, nicht über das Fellknäuel, das sich an meinen Unterschenkel drückte, um sich vor Marie in Sicherheit zu bringen, zu stolpern.
»Das scheint sie aber anders zu sehen. Katzen sind eigensinnige Wesen. Sie suchen sich ihre Gefährten aus, doch wenn eine dich erwählt hat, kannst du dich glücklich schätzen, denn sie wird dir treu bleiben und dich vor Unheil bewahren. Du solltest ihr einen Namen geben«, riet die Chooserin mir.
Sollte ich ihr nun erklären, dass ich nicht vorhatte hier zusammen mit einer Katze, die nicht mal mir gehörte, zu leben? Oder sollte ich einfach schnauben und ihr mit meiner Faust die Nase brechen, weil sie sich schon wieder in mein Leben eingemischte?
In dieser Situation hätte es so viele Reaktionen gegeben und was tat ich? Ich überlegte mir im Stillen schon einmal einen Namen für ein Tier, das anscheinend einen Narren an mir gefressen hatte.
»Vorsicht Stufe!«, riss Marie mich aus meinen Gedanken und das keine Sekunde zu früh.
Ich hob meinen Fuß reflexartig über die Erhebung und spürte wieder einen schmerzhaften Stich, der sich bis in meine Hüfte zog. Das Licht des Feuers an den Wänden war angenehm, sobald ich mich daran gewöhnt hatte, doch gleichzeitig wirkte es unheimlich auf mich. Es erinnerte mich ein wenig an ein Lagerfeuer im Wald, bei dem jemand Geräusche machte, um den Rest der Leute zu erschrecken. Noch beängstigender war jedoch, dass die Gänge wie ausgestorben waren. Das hier war doch so etwas wie ein Internat, oder nicht?
Wo waren die ganzen Schüler? Bis jetzt war uns noch niemand begegnet.
»Die anderen haben Unterricht«, antwortete Marie mir auf meine unausgesprochene Frage.
»Es ist mitten in der Nacht«, sagte ich und versuchte, nicht verwirrt zu klingen oder die Chooserin darauf hinzuweisen, dass ich glaubte, dass sie den Verstand verloren hatte.
»Wir haben auch immer nachts Unterricht. Der Mond macht uns stärker, weil die Göttin uns näher ist, deshalb findet auch der Schulbetrieb zu ihrer Zeit statt«, erklärte die Blonde mir und ihre hellblauen Augen funkelten wie Diamanten.
Am liebsten hätte ich gefragt, von welcher Göttin sie redete, denn obwohl Mutter streng religiös war, hatte ich von einer weiblichen Gottheit noch nie etwas gehört. Doch ich schob es auf und ermahnte mich, später das Gespräch noch einmal aufzunehmen, da wir wieder vor einem Pentagramm standen und mir die Begegnung mit Diana wieder einfiel. Die Chooserin steckte den Schlüssel, den sie mir aus der Hand gerissen hatte, in den Schlitz in der Mitte des Sterns und drehte ihn dreimal. Die Mauern erbebten und zogen sich zusammen, wie vor ein paar Minuten im Direktorat. Ein wenig Putz löste sich von der Wand und das Zeichen begann zu glühen. Ohne zu zögern trat Marie in das geräumige Zimmer, das in zwei Teile aufgeteilt war und ließ sich auf einem Bett mit roter Bettwäsche aus Baumwolle nieder. Sie nickte mir zu und winkte mich in den Raum. Ihrer Aufforderung folgend, sah ich mich im Zimmer um. Eine Seite war komplett kahl, doch im anderen Bereich, in dem die Blondine saß, lagen Kleidungsstücke am Boden und selbstgemalte Bilder hingen in willkürlicher Reihenfolge über dem Bett. Zwischen den Kunstwerken hingen verschiedenste Fotos. Auf den meisten war Marie mit einem Mädchen abgebildet. Die Chooserin sah auf allen Bildern ungefähr gleich aus. Manchmal waren ihre Haare kürzer und auf einigen hatte sie noch nicht die Tätowierungen auf den Schultern, doch sie hatte sich nicht groß verändert.
Das andere Mädchen jedoch war auf einigen Bildern nur aufgrund ihrer Gesichtszüge wiederzuerkennen. Auf älteren Bildern war sie in fröhlichem Orange oder Gelb gekleidet. Sie hatte lange blonde Haare und blaue Augen. Ihr Gesicht zierte ein Lächeln. Doch auf den neueren Bildern war bis auf ihre strahlend blauen Augen alles von ihr verschwunden. Statt Farben trug sie nun Schwarz. Statt den langen Haaren trug sie nur noch Zöpfe, die bis kurz unter ihren Nacken hingen. Sie war dürr. Abnormal dürr und das Lächeln war verschwunden. Stattdessen wurden ihre traurigen Augen ein Blickfang ihrer Seele. Damals konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass zwei so unterschiedliche Charaktere miteinander befreundet sein sollen, doch insgeheim bewunderte ich sie und war neidisch auf die lange Freundschaft der beiden.
»Das ist Taranee Waters. Sie wird deine Zimmergenossin. Du wirst sie mögen«, sagte Marie und mir entging nicht, dass die beiden sich wohl besser kannten als sonst irgendjemand.
»Tara und ich sind beste Freundinnen«, antwortete die Blondine mit den hellen Augen wieder auf eine meiner unausgesprochenen Fragen.
Ich zuckte vor Schreck zusammen, als plötzlich Glocken zu hören waren.
»Mitternacht«, meinte Marie nur gelassen und zuckte mit den Schultern, während sie mich aufgrund meines Verhaltens auslachte.
»Geisterstunde«, redete sie weiter und ihr Schmunzeln wurde zu einem richtigen Kichern.
»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, grölte Marie und bekam Schluckauf. Sie lief rot an und sah aus, als wäre sie kurz davor, zu ersticken.
»Hör auf sie zu ärgern, Mel!«, sprach eine Stimme, die ich noch nicht kannte. Sie war leise und klang erschöpft. Die Chooserin hörte auf zu lachen und wandte ihren Kopf dem Mädchen im Türrahmen zu. Ich folgte ihrem Blick und musste schockiert feststellen, dass Taranee Waters in der Realität noch dünner aussah als auf den Bildern. Sie trug eine schwarze, an den Knien zerfetzte Hose und ein schwarzes Top mit der weißen Aufschrift: Ein guter Tag zum Sterben. An ihrem Handgelenk baumelte ein schwarzes Perlenarmband und auf ihrem Schlüsselbein befand sich auch das Zeichen der Hexen. Das Brandmal bestand bei ihr im Gegensatz zu meinem nur aus dünnen Linien, die fast zu verschwinden schienen. Auch wenn sie zerbrechlich wirkte wie eine Porzellanpuppe, war sie wunderschön und schien von innen heraus zu leuchten.
»Du musst Read sein«, sagte sie und es klang nicht gerade nach einer Frage. »Mein Name ist Tara, aber das hat Mel dir ja sicher schon verraten.«
Taranees Aussage verstand ich nicht. Wer war diese Mel? Ich dachte, die Chooserin hieß Marie. Und woher kannte sie meinen Namen?
»Wir