Rechtsgeschichte. Stephan Meder
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Mit dem integralen Konzept des vorliegenden Überblicks soll also dem Bedürfnis nach einer Kurzdarstellung entsprochen werden, die auch dem antiken Recht einen Platz zuweist. Die Stoffauswahl in den ersten vier Kapiteln über römisches Recht erfolgt mit Blick auf Entwicklungen und Begriffsbildungen, die über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit oder Gegenwart reichen. Dies ermöglicht es, Vorgänge von langer Dauer (long durée) gegenüber Zäsuren schärfer zu akzentuieren. Insgesamt folgt die Darstellung sowohl chronologischen wie systematischen Gesichtspunkten. Wo das chronologische Schema Gefahr läuft, zur bloßen Aufzählung von Ereignissen zu werden, treten systematische Gesichtspunkte in den Vordergrund. So wird zum Beispiel der juristische Humanismus (9. Kapitel, S. 209) im Anschluss an das Kapitel über die Renaissance [<<17] der Rechtswissenschaft in Bologna behandelt, obwohl die nachfolgend erörterten rechtlichen Strukturen des Feudalsystems (10. Kapitel, S. 223) schon viel früher entstanden sind. Bisweilen werden einzelne Stoffgebiete vom chronologischen Ende her vorgestellt, um mehr Hier und Jetzt in die Lehre der Rechtsgeschichte zu bringen. Dies erscheint vor allem dann gerechtfertigt, wenn bestimmte, bereits überwunden geglaubte Merkmale früher Rechtskulturen in der Gegenwart wieder in Erscheinung treten. Als Beispiele seien die um die Gemeinsamkeiten von Schadensersatz und Strafe (punitive damages), von Schuld- und Familienrecht oder die um Verschuldens- versus Erfolgshaftung geführten Debatten genannt. Im Übrigen war beabsichtigt, die in der Vorlesung bewährte Darstellung der Abfolge des Geschehens so weit als möglich zu erhalten.
Nachfolgend sei noch ein Überblick über die wichtigsten Stationen der Darstellung gegeben.
2. Vom römischen Recht zum europäischen ius commune
Die uns bekannte Geschichte des römischen Rechts umfasst mehr als tausend Jahre, sie reicht von den ersten Regelungen der Könige, den sogenannten leges regiae aus dem späten 6. Jahrhundert v. Chr., über das um 450 v. Chr. verfasste Zwölftafelgesetz bis zu Justinians Gesetzgebung im 6. Jahrhundert n. Chr. Man pflegt drei Zeitabschnitte zu unterscheiden: die republikanische, klassische und nachklassische Epoche. Die republikanische Zeit erstreckt sich von der Vertreibung der Könige im 5. Jahrhundert v. Chr. bis zur Zeit des Prinzipats, also des gemäßigten Kaisertums, das mit Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) seinen Anfang nimmt. Mit Augustus beginnt zugleich die klassische Epoche, in der die römische Rechtswissenschaft ihre volle Kraft und Eigenart entfaltet. Sie wird von der Nachklassik abgelöst, die mit der Wirtschaftskrise des 3. Jahrhunderts n. Chr. beginnt und bis zum Ende der Antike reicht.
Das römische Recht ist keine systematische Einheit, sondern über die Jahrhunderte hinweg aus mehreren Einzelquellen in Schichten gewachsen. Am Anfang steht das Zwölftafelgesetz, vermutlich ein Ergebnis der zwischen Patriziern und Plebejern geführten Ständekämpfe. Mehr als [<<18] jede spätere literarische Quelle vermitteln die Zwölf Tafeln einen Einblick in die sozialen Verhältnisse der durch Landwirtschaft geprägten altrömischen Periode (1. Kapitel 1, S. 27.). Als die Ständekämpfe im 3. Jahrhundert v. Chr. ein Ende finden, beginnen sich die inneren Verhältnisse der Republik zu stabilisieren. Dies schafft die Voraussetzungen für eine neue, auf Expansion gerichtete Außenpolitik. Schon bald erstreckt sich der römische Machtbereich auf ganz Italien und zahlreiche große griechische Handelsstädte, die ihrerseits mit den wichtigsten Handelszentren des gesamten Mittelmeerraumes verbunden sind. Die bäuerlichen Verhältnisse weichen zunehmend urbanen Lebensformen, deren wirtschaftliche Struktur von Handwerk, Gewerbe, Handel und Geldverkehr geprägt ist. Der gesellschaftliche Wandel stellt das Recht vor Aufgaben, die auf Grundlage des Zwölftafelgesetzes nicht mehr adäquat zu lösen sind. Immer häufiger werden den Gerichten Sachverhalte zur Entscheidung vorgelegt, für deren rechtliche Bewertung sich keine passenden Regeln ausfindig machen lassen. Da die Rechtspflege im alten Rom nicht juristischen Sachkennern, sondern Laien übertragen war, die an spezialrechtlichen Fragen wenig Interesse zeigten, werden Fachleute (iuris consulti) zu Rate gezogen. Man wendet sich an Juristen, die das Recht den wechselnden Bedürfnissen der Praxis anpassen, indem sie es von Fall zu Fall weiterentwickeln (S. 67). Dieses in erster Linie von Juristen geschaffene Recht tritt zunehmend an die Stelle des alten Gesetzesrechts und gewinnt in der klassischen Epoche schließlich eine dominierende Rolle.
Die Juristen sind die eigentlichen Schöpfer der römischen Privatrechtsordnung, die in der klassischen Zeit zur vollen Blüte gelangt (3. Kapitel 2, S. 82.). In der sich anschließenden nachklassischen Periode kommt es zu einem dramatischen Niedergang der wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse, der auch im juristischen Bereich deutliche Spuren hinterlässt. An die Stelle des gemäßigten Kaisertums tritt in der Nachklassik das absolute Kaisertum. Dem Kaiser muss nun göttliche Verehrung gezollt werden. Er erhebt sich zum alleinigen Gesetzgeber und engt den für die Herausbildung von Juristenrecht notwendigen Spielraum zunehmend ein. Die Entwicklung mündet in den spätantiken Zwangsstaat mit einem umfassenden bürokratischen Apparat. Gegen Ende des [<<19] 4. Jahrhunderts (395) erfolgt die Teilung des römischen Imperiums in ein west- und oströmisches Reich. Auf Grund des anhaltenden Niedergangs endet das weströmische Reich, und mit ihm die Antike, im Jahre 476 n. Chr. Dagegen haben sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände im oströmischen Reich auf einem ungleich höheren Niveau gehalten. Seine Auflösung erfolgte erst 1453 nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken. In neu gegründeten Rechtsschulen, unter denen vor allem die von Berytos (Beirut im Libanon) und Konstantinopel (auch Byzanz, heute Istanbul) hervorragen, wird der überlieferte Stoff auf anspruchsvolle Weise weiterhin bearbeitet (4. Kapitel, S. 99).
Einen Höhepunkt erlangt die Arbeit der oströmischen Rechtsschulen durch das Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian (527 – 565), dem wir die umfassende Kenntnis der klassischen römischen Jurisprudenz zu verdanken haben. Das Werk gliedert sich in vier Teile: Institutionen, Digesten (auch Pandekten genannt), Codex und Novellen.1 Nun hatte Justinian den Text 533 und 534 zwar als Gesetz verkünden und in Kraft treten lassen. In Wirklichkeit aber enthalten seine wichtigsten Teile überhaupt keine Gesetze, sondern eine Zusammenstellung von eben jenen Problemlösungen, welche die klassischen römischen Juristen fallmäßig erarbeitet hatten. Dass es sich um von Juristen erarbeitetes Fallrecht handelt, ist im Übrigen auch einer der Gründe für die besondere Aktualität des römischen Rechts (4. Kapitel 5.2, S. 117). Die „Gesetzgebung“ des Justinian hat zunächst nicht die erhoffte praktische Bedeutung erlangt. Doch galt das römische Recht in den oströmischen Gebieten in einer von hellenistischen Gedanken überlagerten und stofflich reduzierten Form weiter. Ganz anders war die Lage im Gebiet des ehemaligen weströmischen Reiches. Dieses war zum Auffangbecken für germanische Wanderstämme geworden und befand sich gegen Ende des 5. Jahrhunderts [<<20] in den Händen einzelner Heerkönige, die aus eigener Machtvollkommenheit über die einheimische Bevölkerung herrschten. Die Abwendung von der klassischen Tradition hatte im ehemals