Rechtsgeschichte. Stephan Meder
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Es mussten fast 600 Jahre vergehen, bis das römische Recht die praktische Bedeutung erlangte, die Justinian sich erhofft hatte. Eine Schlüsselrolle spielt die Gründung einer Rechtsschule durch die Glossatoren in Bologna um die Wende zum 12. Jahrhundert (8. Kapitel, S. 191). Aus dieser Rechtsschule, die sich zum Ziel setzte, das justinianische Werk auf Grundlage einer von der frühscholastischen Theologie entwickelten Methode wissenschaftlich zu bearbeiten, ist die moderne Universität hervorgegangen. Durch Abstraktion aus den Einzelfallentscheidungen der Digesten suchten die Bologneser Legisten allgemeine Rechtssätze herauszupräparieren, die im praktischen Rechtsleben als Leitfaden dienen konnten. Parallel zu den Legisten begannen ebenfalls in Bologna die Kanonisten kirchliche Rechtsquellen mit ähnlichen Methoden wissenschaftlich zu bearbeiten (6. Kapitel 3, S. 153.). Im 14. und 15. Jahrhundert wurden die Glossatoren von der stärker auf praktische Ziele ausgerichteten Schule der Kommentatoren abgelöst. Beide Schulen haben auf die Rechtskultur der kontinentaleuropäischen Länder entscheidenden Einfluss ausgeübt. Dies gilt im Prinzip auch für England. Doch hat sich hier schon bald eine eigene hochstehende Rechtswissenschaft entwickelt, die der Aufnahme des Rechts einer fremden, untergegangenen Kultur zunehmend Widerstand leistete (8. Kapitel 4, S. 202.). Eine selbständige Erscheinung der Bearbeitung des römischen Rechts bildet der juristische Humanismus, wie er sich – ausgehend wiederum von Italien – vor allem in Frankreich und den Niederlanden entwickelt hat. Die textkritischen Forschungen der humanistischen Juristen verleihen dem justinianischen Werk im Laufe des 16. Jahrhunderts eine deutlich veränderte Gestalt. Den Endpunkt einer Reihe gedruckter Ausgaben bildet eine Edition von 1583, in der die einzelnen Teile des Werkes erstmals unter dem Titel Corpus iuris civilis zusammengefasst sind (S. 218). [<<21]
In Deutschland ist zu dieser Zeit die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts bereits in vollem Gange (11. Kapitel, S. 243). Die Übernahme insbesondere des an den italienischen Universitäten fortgebildeten Rechts des Corpus iuris war die Folge einer zunehmenden Verwissenschaftlichung des Rechtslebens. Universitär ausgebildete Spezialisten verdrängten die juristisch gebildeten Laien aus ihren Positionen in Rechtsprechung und Rechtsetzung. Unterrichtet wurden die angehenden Juristen an den seit der Mitte des 14. Jahrhunderts auch nördlich der Alpen in großer Zahl gegründeten Universitäten im römischen und kanonischen Recht, was ihnen nach erfolgreichem Studienabschluss den Titel doctor utriusque iuris, Doktor beider Rechte, einbrachte. Das römische Recht hat im Laufe der Zeit vielfache Veränderungen erfahren. In seiner veränderten Gestalt bezeichnete man es als das gemeine, d. h. das allgemein geltende Recht (ius commune). Das Verhältnis des aus römisch-kanonischem Recht gewachsenen ius commune zum einheimischen Stadt- oder Landrecht bestimmte die sogenannte Statutentheorie. Danach galt im Grundsatz der Vorrang des besonderen gegenüber dem allgemeinen Recht, so dass das ius commune im Verhältnis zu den örtlichen statuta (Vorschriften) zurücktreten musste. Das partikulare Recht war allerdings häufig lückenhaft und seine Existenz oft nur unter großen Schwierigkeiten oder überhaupt nicht beweisbar. So kam es, dass die in der Theorie vorgegebene Hierarchie der Rechtsquellen in der Praxis unterlaufen wurde. Bald schon ist die Dogmatik der Glossatoren und Kommentatoren auch auf die Partikularrechte angewandt worden, was diese vor einer Verdrängung durch das römische Recht bewahrte.
Die Verschmelzung römisch-rechtlicher, kirchenrechtlicher und partikularrechtlicher Elemente führt im 17. Jahrhundert zum sogenannten Usus modernus pandectarum (11. Kapitel 3, S. 252.). Darunter versteht man die zeitgemäße Praxis des römischen Rechts, das von einem universitär gebildeten Juristenstand logisch nachvollziehbar gehandhabt wird. Das Merkmal der Rechtsquellenvielfalt prägt den Charakter dieser Epoche, die sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert erstreckt. Mit den großen Naturrechtskodifikationen im 18. und 19. Jahrhundert kam das über Jahrhunderte gewachsene europäische ius commune zunächst außer Geltung (12. Kapitel, S. 261 und 13. Kapitel, S. 281). Die Kodifikatoren des [<<22] Naturrechts hofften, das römische Recht durch eine Systematisierung des gesamten Rechtsstoffs weitgehend überflüssig machen zu können. Diese Hoffnungen waren aber bald zerronnen, und zwar nicht nur, weil die römisch-gemeinrechtliche Dogmatik tiefe Spuren in den Gesetzgebungen hinterlassen hatte. Entscheidend war vielmehr, dass diese Dogmatik zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel bei der Anwendung der neuen Gesetze wurde – ein Vorgang, den man treffend als „Pandektisierung“ charakterisiert hat. Die als neuhumanistische Gegenbewegung zur Naturrechtsschule im 19. Jahrhundert gegründete Historische Schule ließ das römische Recht wiederum einen gewaltigen Aufschwung erleben. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die nach ihrer Hauptquelle auch Pandektistik heißt, hat dann die jüngeren Kodifikationen des Zivilrechts, insbesondere das schweizerische Zivilgesetzbuch und das BGB, wesentlich beeinflusst (14. Kapitel, S. 299 bis 16. Kapitel, S. 341).
Bis zum Jahre 1900 waren noch knapp die Hälfte der veröffentlichten höchstrichterlichen Entscheidungen nach gemeinem Recht, also überwiegend nach bis zu 2000 Jahre alten Texten aus dem Corpus iuris entschieden worden. Daneben galten in Deutschland französisches, preußisches, bayerisches, sächsisches, österreichisches und dänisches Recht sowie eine ganze Fülle von Partikularrechten, darunter ganz altehrwürdige wie etwa das „Jütisch Low“ oder Teile des Sachsenspiegels.2
Mit Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 haben die jahrzehntelangen Bemühungen um ein einheitliches Recht einen erfolgreichen Abschluss gefunden (16. Kapitel, S. 341). Daher mag es überraschen, dass der Rechtszustand heute wieder durch eine Vielfalt von Rechtsquellen gekennzeichnet ist und das BGB nur noch eine unter mehreren bildet. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass sich die Beziehungen von Recht und Staat [<<23] gewandelt haben: Fortschreitende Globalisierung und unzureichende Finanzierung geben Anlass, die vom Staat traditionell wahrgenommenen Aufgaben zu überdenken. In bestimmten Bereichen möchte der Staat heute nicht mehr Eigenleistungen erbringen, sondern Leistungen an Dritte abgeben und sich darauf beschränken, einen Rahmen zu gewährleisten. Diesem Wandel tragen Leitbilder wie „Gewährleistungsstaat“ oder „kooperativer Staat“ Rechnung, die frühere Modelle des Sozial- oder Interventionsstaates inzwischen weitgehend verdrängt haben. Danach soll auch die Kompetenz zur Rechtsetzung nicht mehr allein dem staatlichen Gesetzgeber vorbehalten sein. In der jüngsten Zeit mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass es zunehmend auch privaten Dritten gestattet wird, objektives Recht zu setzen.
An Beispielen für private Rechtsetzung besteht kein Mangel. Zu denken wäre etwa an tradierte Formen wie Verbandssatzungen, Standesordnungen oder Allgemeine Geschäftsbedingungen, die bereits in den 1930er Jahren als „Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft“ charakterisiert wurden. Als aktuell diskutierte Erscheinungsmuster wären zu nennen: Corporate governance, lex mercatoria, lex digitalis, lex sportiva, Unidroit-Prinzipien oder das Gebiet technischer Standardisierung, wo auf nationaler und internationaler Ebene Normen von privaten Gremien jeweils erarbeitet und publiziert werden. Außerdem hat die Bedeutung des Richterrechts erheblich zugenommen, die Spezialgesetzgebungen sind deutlich angewachsen und durch Rechtsetzungsakte auf europäischer Ebene hat das Spektrum von Rechtsquellen in den letzten Jahren eine zusätzliche Ausdehnung erfahren. Unter diesen Umständen ergibt sich wie schon so oft in den vergangenen Jahrhunderten ein gesteigerter Bedarf an allgemeinen Prinzipen und sinnstiftenden Begriffen, den wissenschaftlich gebildete Juristen in Form von Dogmatik zu decken haben. Durch Abstraktion aus einer Fülle möglicher Problemlösungen müssen sie die leitenden Grundsätze herausarbeiten und so diejenigen Denkfiguren und Verständigungsmittel zur Verfügung stellen, derer die Rechtspraxis angesichts der weiter steigenden Zahl von Rechtsquellen