Neue Theorien des Rechts. Группа авторов

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nicht gesehen. Der Gerechtigkeit nähert man sich dekonstruktiv, indem man: konkrete Ungerechtigkeiten denunziert, solche Ungerechtigkeiten, die dort geschehen und deren Wirkungen besonders sinnfällig sind, wo das gute und ruhige Gewissen dogmatisch bei dieser oder jener überkommenen Bestimmung der GerechtigkeitGerechtigkeit stehenbleibt[134].

      Damit wird der elementare Protest geadelt, der gleichzeitig die Bindung an bestimmte einzelne Elemente aufkündigt. Der Dogmatiker, der Jurist mit dem sprichwörtlich immer guten Gewissen, der dieses Gewissen für die Bestimmung der GerechtigkeitGerechtigkeit verwaltet – dieser Jurist sieht über kleinere oder größere Ungerechtigkeiten hinweg, solange das System im Ganzen erhalten bleibt und nicht in seinem Bestand gefährdet ist. Der Dogmatiker denunziert nicht, er verarbeitet neue Elemente im Rahmen des alten Systems.

      Dennoch ist die Denunziation konkreter Ungerechtigkeit von einer Dogmatik der GerechtigkeitGerechtigkeit nur einen Steinwurf weit entfernt. Wer den Stein werfen will, |39|muss die Gerechtigkeit schon in seinem Rücken wissen. Er fühlt sie als Motiv und ist sich ihrer sicher, auch wenn er sie nicht in Sätzen beschreiben kann. Denunziation und Protest setzen insofern eine andere, nur scheinbar entgegengesetzte zweite Bewegung voraus, ohne die man Ungerechtigkeiten gar nicht beim Namen nennen kann. Man kann es nur, wenn man wenigstens in einem konkreten Moment ein entsprechend konkretes Bild davon hat, was gerecht wäre, wie Recht »jetzt, im gegenwärtigen Zeitpunkt« sein müsste[135] – und gleichzeitig kann man das doch nicht wissen, weil das Ganze sich aus der Partialperspektive nicht erfassen lässt. In dieser paradoxen Doppelung liegt alles das beschlossen, was Derrida selbst einen »Wahn« nennt. Der Wahn umkreist die Idee der Gerechtigkeit, die immer bejaht, die eine »Gabe ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Rekognition, ohne ökonomischen Kreis, ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft und ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens« fordert[136]. Diese Forderung setzt etwas als konkret, etwas, das man einen Zustand nennen könnte, und die Aufkündigung des realisierten Zustands hält dieses Etwas wieder in der Schwebe. Es ist so wirklich wie unwirklich. Die Frage nach Gerechtigkeit begnügt sich nicht mit Rückzugspositionen, sie will geltendes, konkretes Recht werden. Eben deshalb ist sie DekonstruktionDekonstruktion, Aufkündigung des Bestehenden wie Ankündigung des zukünftig Wahren, jedoch nie präsent. Was dazwischen steht, ist Derridas zentrale Aussage: Die Gerechtigkeit ist immer unterwegs. Sie hat ihre Heimat nicht im Recht.

      D. Zur Diskussion in Theorie und Anwendungspraxis

      Es ist nicht überraschend, dass innerhalb der critical (legal) studies, in deren Rahmen Derrida 1989 über force of law vortrug, auch die wesentliche, zunächst theoretische Diskussion begann. Wesentlich war, was man von der DekonstruktionDekonstruktion und ihren Lektüren und Operationen politisch eigentlich halten sollte. Derrida las zwar MarxMarx, Karl und lobte ihn, vertrat aber ersichtlich keine marxistische Lehre; er las auch Carl Schmitt und Heidegger, ohne sie sogleich wegen ihrer NS-Verstrickung zu verwerfen. Was konnte das politisch heißen? Auf elegante Weise hatte Richard RortyRorty, Richard schon in den Achtzigerjahren Derrida als privaten Ironiker ins Lager der Selbstverwirklichung ohne politischen Bezug abgelegt[137]. Die möglicherweise auf Aktionismus eingerichtete Linke ist dem nicht beigetreten.

      Auf einem im Jahre 1993 von Chantal MouffeMouffe, Chantal unter dem Titel »Deconstruction and Pragmatism« organisierten Symposium hat die Veranstalterin die DekonstruktionDekonstruktion als Verabschiedung einer konsenstheoretischen Illusion vorgestellt. |40|Man habe fälschlich unterstellt, »dass es möglich sei, ein ›Wir‹ herzustellen, das ›die Anderen‹ nicht beinhaltet«[138], weil der demokratische Konsens vorspiegele, es gebe so etwas wie einen alle umfassenden »Grundkonsens«. Der heute von MouffeMouffe, Chantal vertretene »linke Populismus« folgt ebenso wenig aus dieser Diagnose, wie dekonstruktives Denken einfach unpolitisch wäre. Derrida selbst hat darauf bestanden, dass »die Dekonstruktion scheinbar politisch neutral ist«, aber gleichzeitig auch – »indem sie Pfaden und Codierungen folgt, die nicht rein traditionell sind« – eine »Hyperpolitisierung« bewirke[139]. Simon CritchleyCritchley, Simon wiederum ist programmatisch der RortyRorty, Richard-These entgegengetreten, die Dekonstruktion diene allein der privaten Selbstverwirklichung und bewähre sich in einem neuen Genre der Liebesbriefe und Bekenntnisse wie in Derridas Sammlung über die Postkarte aus den Siebzigerjahren[140]. Als Gegenbeispiel führte er die beiden Vorträge zu Force of Law an und beharrte für die Dekonstruktion als Methode und Derrida als Person auf dem Prädikat des öffentlichen Liberalen[141]. Eine Gelegenheit zur Darstellung dieses öffentlichen Liberalismus bot der 1994 veranstaltete und gut dokumentierte Villanova Roundtable. John Caputo erläuterte in der Tagungsveröffentlichung, dass erst dekonstruktiv die Lücke zwischen Recht und GerechtigkeitGerechtigkeit eröffnet werde. Oberflächenbetrachter des Rechts bemerkten sie nicht. Erst wenn man sie bemerkt, wird es möglich, aus der Möglichkeit der Dekonstruktion wirkliche Schlussfolgerungen zu ziehen, denn es handelt sich nach der Konzeption von Caputo dabei keineswegs um ein beobachtend philosophisches Verfahren[142]. Dekonstruktive Eingriffe prägen einen Regimewechsel, sie formen den Übergang von altem Unrecht zu eigentlichem Recht, wobei dieser Übergang nur gelingen kann, wenn und weil es eine Wirklichkeit der Dekonstruktion gibt. Der weltweite Anwendungsfall dafür ist unter dem Titel transitional justice zum Stichwort geworden[143].

      Offensichtlich ist DekonstruktionDekonstruktion notwendig, wenn ein früher als geltend erklärtes Recht heute zu Unrecht erklärt wird. Erst vom Ursprungsparadox her – vor dem Hintergrund der DifferenzDifferenz zwischen Recht und Nicht-Recht – sieht man, dass nicht etwa beliebige Inhalte zu Recht gemacht werden können. Bloßes Zurechtmachen und Herrichten schafft keine Geltung. Was abstrakt klingt, hat Marc Amstutz am Nürnberger Anklagepunkt 4 im |41|Hauptkriegsverbrecherprozess konkret verdeutlicht[144]. Dabei ging es um die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem bis zum heutigen Tage wichtigen Topos im Völkerstrafrecht. Beruht die Verfolgung insoweit auf neuem, vorher unbekannten Recht oder war sie schon von jeher Rechtsinhalt?

      Gustav RadbruchRadbruch, Gustav hat bereits im Jahre 1946 klar gemacht, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur GerechtigkeitGerechtigkeit ein Gesetz zu »unrichtigem Recht« machen kann (die sog. »RadbruchRadbruch, Gustav-Formel«)[145], und Amstutz beschreibt die methodische Bewegung dabei als supplément. Grundlegende Rechtsgehalte wirken als negatives, im Hintergrund immer gegenwärtiges, aber vordergründig marginales Verständnis und können die gesetzlichen Bestimmungen unwirksam machen. Das ist Recht, nicht Politik. Catherine Turner hat den Zusammenhang beschrieben[146]. Sie macht dabei deutlich, dass in einem dekonstruktiven Konzept von justice nicht nur ein immer schon vorhandenes regulatorisches Idealbild des Rechts steckt. Das Verlangen nach justice erweitert vielmehr die Rechtsformen. Was das praktisch heißt, sieht man am »Recht auf Wahrheit«. Dabei handelt es sich um mehr als um die Wahrheitsmäßigkeit gerichtlicher Feststellungen. Im Gegenteil: Eingeklagt wird die Notwendigkeit solcher Feststellungen beim Ausbleiben der Wahrheit. Juristen haben sich erst daran gewöhnen müssen, dass die Hinterbliebenen der Opfer der RAF keine Ruhe geben, dass die Auschwitz-Opfer von dem Wachmann Demjanjuk eine Beschreibung dessen erwarten, was er getan hat, und der Vater von Wolfgang Grams nicht hat glauben wollen, dass sein nach einem Schusswechsel mit Polizeibeamten toter Sohn einem Selbstmord erlegen wäre. Diese deutschen Beispiele stehen neben den Schicksalen Hunderttausender, die auf Verfahren warten, in denen dargestellt wird, wie ihre Angehörigen zu Tode gekommen sind. Die Praxis des argentinischen Militärregimes, Missliebige zu verschleppen und dauerhaft verschwinden zu lassen, bis den Angehörigen klar war, dass die Kinder oder Ehemänner umgebracht worden sind, hat zu einem neuen Wahrheitstyp geführt[147]. Den Müttern der Plaza de Mayo gesteht José Brunner[148] den bedeutsamsten Beitrag für die Genese eines »Rechts auf Wahrheit« zu. Den Hintergrund für das unstillbare Bedürfnis, genauen Aufschluss über den Tod zu bekommen, sieht er in der gefühlsmäßigen Verfassung derjenigen, die ein solches Recht einfordern. Susanne Buckley-Zistel verweist im gleichen Zusammenhang auf Derrida und die Verfahren der südamerikanischen Wahrheitskommissionen. Erst wenn die Wahrheit von einer Kommission |42|»aufgedeckt und archiviert wurde, kann sie – wenn auch nur vorübergehend – vergessen werden, da sie jederzeit wieder abrufbar ist«[149].

      Gespenstersuche

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