Neue Theorien des Rechts. Группа авторов
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Niklas LuhmannLuhmann, Niklas hat – von seinen Ausgangspunkten her nicht selbstverständlich – der DekonstruktionDekonstruktion einen besonderen Platz im aktuellen Theoriebetrieb zugewiesen. Dekonstruktiv erledige man genau das, »was wir jetzt tun können«[156], und das heißt, dass wir nicht mehr die Welt beschreiben, sondern zu sehen versuchen, wie die Welt beschrieben wird, was unvermeidlich deren Zerlegung in Elemente – Dekonstruktion eben – nach sich zieht. Was das für Rechtsphänomene heißt, hat in der LuhmannLuhmann, Niklas-Nachfolge Gunther TeubnerTeubner, Gunther demonstriert. Dekonstruktiv deutet Teubner das Gerechtigkeitsdenken als |43|»Transzendenzerfahrung, die gerade nicht mit religiöser Transzendenz identisch ist«[157]. Zu Teubners Repertoire gehört die ParadoxieParadoxie-Entfaltung. Wo LuhmannLuhmann, Niklas noch schnelles Weitergehen empfahl, damit man nicht völlig verwirrt werde, praktiziert TeubnerTeubner, Gunther genaues Hinsehen und fallweise Beschreibungen, und im Ergebnis wird man als Jurist unruhig. Denn die Beobachtung zweiter Ordnung verlangt durchaus nach Eingriffen und führt keineswegs zur Erstarrung. Teubner entlehnt dafür von Rudolf Wiethölter die »Rätselformel«, moderne Rechtspflege sei Pflege der RechtsparadoxieParadoxie wie zugleich ihrer Erhaltung und Behandlung[158]. Die Untersuchungen dazu konzentrieren sich beispielhaft auf transnationale Rechtsphänome. So treffen aufeinander der national ganz unterschiedliche Schutz des Copyrights und die international gleichförmige, internetgestützte Kommunikation über Werke, es widersprechen sich der Patentschutz für Medikamente durch nationale Behörden und der lebenserhaltende, weltweite Bedarf an solchen Medikamenten oder – das ist bereits erwähnt – das nationale Interesse an Prozesserledigung und die internationale Nachfrage nach menschenrechtlich geschützter Wahrheit[159]. TeubnerTeubner, Gunther besteht nun zwar darauf, dass das Auffinden solcher Widersprüche mit einer evolutionären Umgestaltung des Rechts zu verbinden sei und nicht (im Sinne von LévinasLévinas, Emmanuel) in eine Suche nach etwas anderem als Recht versickert[160], vorläufig beschränken sich aber die Andersartigkeiten des Rechts entweder auf andere Hintergrundsannahmen in der Methodenlehre oder bestehen in einem humanitären Appell, wie ihn Derrida selbst[161] für einen Kongress der »villes-refuge« im Jahre 1995/6 (!) als Plädoyer für unbedingte Gastfreundschaft (hospitalité inconditionelle) gehalten hat.
Das ist nicht wenig. In der deutschen Methodenlehre herrscht bis zum heutigen Tage die stillschweigende Hintergrundannahme, das Gesetz bestimme die Entscheidung. Ein solches Dogma bestimmt die kontinentale universitäre Juristenausbildung, auch wenn es dadurch verfeinert wird, es seien mit und neben dem Gesetz weitere Texte zu berücksichtigen, deren Bedeutung oder Geltungssinn die Rechtlichkeit einer Entscheidung ausmachen soll. Der Einwand gegen die DekonstruktionDekonstruktion geht beispielsweise dahin, dass sich hinter einer Ethik des Anderen auch nichts anderes als der Gleichheitssatz verberge[162]. Das universalistische Potential menschlicher Sprachen werde dabei unterschätzt[163]. Der Rechtsanwender habe sich wie der Adressat von Rechtsnormen »an der generellen Norm |44|zu orientieren«, so dass die von Derrida beförderte Einzelfallorientierung die Hauptfunktion des Rechts, seine Regelhaftigkeit[164], bedrohe. Auch in der Rechtstheorie wird die Philosophie Derridas bis auf Weiteres nur als Mittel zu Infragestellungen einer Regel vorgestellt[165].
Grundlegende Qualität entfalten Derridas Texte erst in einer Methodenlehre, die in operative Einzelheiten zerlegt, was Rudolf Wiethölter programmatisch so umformuliert: Nicht Rechtsanwendung, sondern »Rechts-Gewinnung« als Begründung in Anwendung, eher »Herstellung« als »Darstellung« charakterisiere die juristische Arbeit[166]. Friedrich Müller und Ralph Christensen setzen diese Bewegung in Methodik um mit der Formel, das »rechtsstaatlich Zulässige« sei vor der Folie des »methodisch Möglichen« zu bestimmen, sodass der Gesetzestext ein heterogenes »Gewebe von DifferenzenDifferenz« enthalte[167], dessen Sinn in einem gestuften Konkretisierungsvorgang zu bestimmen, aber nicht, auch nicht in der Form einer gesetzlichen Regel vorgegeben sei. Der Normtext wird im dekonstruktiven Sinne als Eingangsgröße für die Arbeit der Konkretisierung verstanden, enthalte sie aber nicht bereits[168]. Müller/Christensen zeigen an der neu entstandenen europäischen Rechtsordnung und Rechtsprechung, dass der Normtext erst dadurch funktioniere, dass er von einer vordefinierten Bedeutung durch den »Sender« abgeschnitten sei. Marc Amstutz untersucht dazu die Wirkungsweise des europarechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung und bezeichnet den Prozess als »evolutorische Kollisionsauflösung«[169]. Es wird zu einer dekonstruktiven Operation, bei jeder neuen Verwendung zu berücksichtigen, dass der Sinn einer Norm nicht einfach identisch wiedergegeben, sondern verschoben »und neuen, unvorhergesehenen Situationen aufgepfropft« werde[170]. In der Regensburger Habilitation von Joachim Goebel waren schon im Jahre 2001 Vorschläge enthalten, wie man »Traditionsschutt«, den der angeblich überlieferte Gesetzestext angehäuft habe, wieder wegräumen könne, nämlich durch ein Rechtsgespräch als Gegenmittel zu »überbordender Theorie«[171] und Medium zur Artikulation »des Anderen«[172]. Goebels Arbeit ist am Privatrecht orientiert und vertieft demgemäß |45|die gesprächsorientierten Normen der ZPO, von dessen Magna Charta (§ 139 I ZPO) über § 278 ZPO bis zu Art. 103 GG[173]. In der Betonung des Rechtsgesprächs kann man eine Reverenz an die UnentscheidbarkeitUnentscheidbarkeit sehen, die Derrida als Grundlage und Ergebnis aller paradoxalen Sprachbemühungen hervorgehoben hat. Ihr entspricht die mit Derrida und LévinasLévinas, Emmanuel entwickelte Mediationskultur von Stephan Schmitt[174]. Im Medium der Gerichtsstatistik und als Tendenz ausgedrückt: Es wird zunehmend mehr verglichen und weniger entschieden[175].
E. Zur Lektüre
Um einen eigenen Eindruck von der Arbeit der DekonstruktionDekonstruktion zu gewinnen, ist es unerlässlich, eigene Texte von Derrida zu lesen. Wer literarisch interessiert ist (d.h. auch Kafka liest), sollte mit der Studie vor dem Gesetz (Préjugés) beginnen. Wer politisch argumentiert, wählt stattdessen den Essay über Schurken. In jedem Fall muss man den Vortrag zur Gesetzeskraft lesen. Einen Einstieg vermittelt auch der kurze Text zur Politik des Eigennamens, der von der Gründungsurkunde der amerikanischen Verfassung handelt. Zum Verfahren der Dekonstruktion ist die Literatur nicht mehr zu übersehen, denn als Interpretationsstil oder -methode wird sie in der Literaturwissenschaft gebraucht und hat dort einige Zeit lang als besonders angesagt gegolten. Ich bevorzuge heute den schönen und im Verhältnis zu Derrida kongenialen Text von John Caputo und empfehle im Übrigen den Überblick des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Culler. Für deutsche Freunde der Systemtheorie bietet sich Niklas LuhmannsLuhmann, Niklas Aufsatz zur Dekonstruktion an. Was die juristische Rezeption anbelangt, kann man grundsätzlich von Gunter TeubnerTeubner, Gunther lernen. Die derzeit beste Derrida-Anwendung – in ihrem Fall von MarxMarx, Karl’ Gespenster – bietet Christiane Wilke.
F. Literaturhinweise
Derrida, Jacques, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«