Neue Theorien des Rechts. Группа авторов
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Dieser Zugriff grenzt sich von einem einseitigen, politikzentrierten Steuerungsanspruch ab. Denn in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft neigt die Idee eines allumfassenden Steuerungszentrums dazu, die existierenden Differenzierungsmechanismen und die damit in Zusammenhang stehenden Autonomieräume zu zerstören. Deshalb sind teilsystemspezifische Reflexionsprozesse gefragt, die in je spezifischen Kontexten sicherstellen, dass die Produktivkräfte der funktionalen Differenzierung nicht in Destruktivkräfte umschlagen: »Reflexionsprozesse innerhalb gesellschaftlicher Teilsysteme müssen in hochdifferenzierten Gesellschaften an die Stelle gesamtgesellschaftlicher Integrationsmechanismen treten […].«[225] Steuerungsprobleme liegen nämlich vor allem dann vor, wenn sich die jeweiligen Sozialsysteme selbst überhöhen und sich an die Stelle der gesamten Gesellschaft setzen. Folglich ist eine Demokratisierung der Gesellschaft nur in nicht-vulgärer, kontextsensibler Form zu realisieren[226]. Insbesondere gilt es abzuklären, welche Leistungen und Funktionen das Recht für andere Prozesse sozialer Selbstorganisation erbringt[227]. Eine »Selbstlimitierung des Rechts« erscheint dort aussichtsreich, wo es mit seiner juridischen Eigenrationalität zerstörerische oder kolonisierende Effekte erzielt. Das Recht kann aber auch die gewünschte Demokratisierung abstützen, wenn es die »strukturellen Voraussetzungen für selbstregulatorische Prozesse« schafft[228].
LuhmannLuhmann, Niklas hatte dieser reflexiven Wende in der SystemtheorieSystemtheorie des Rechts scharf widersprochen[229]. Er kritisierte, dass die avisierte Kontextsteuerung nur schwache |59|Realisierungschancen hat und bringt die Geschlossenheit des Rechtssystems in Stellung. Im Bereich der Rechtserkenntnis gehe es nicht um eine weit gefasste, kontextuelle Adäquanz, die die sozialen Umwelten mit einbezieht, sondern nur um den internen Anschluss an die Rechtskommunikation. Folglich könne »über reflexives Recht (…) nicht hemmungslos soziales Wissen ins Recht einfließen«[230]. LuhmannLuhmann, Niklas bringt eine vergleichsweise geschlossenere Lesart der Selbstreferenz ins Spiel. Sie bescheinigt den reflexiven Demokratisierungsbestrebungen, entweder an der Geschlossenheit des Rechtssystems abzuprallen oder das Rechtssystem mit externen Anforderungen zu überlasten. Wer die modernen Sozialsysteme mit Anforderungen und Erwartungen überlädt, so LuhmannLuhmann, Niklass Argumentationsgang, bewirke letztlich eine Ent-Differenzierung und schränke die Freiheitsgrade der modernen Gesellschaft ein. An dieser ersten Welle der systemtheoretischen RechtskritikRechtskritik zeigt sich, wie das Wechselspiel aus Öffnung und Schließung bis in die rechtspolitische Diskussion hineinragt.
II. Transnationaler Konstitutionalismus
Eine zweite Welle der systemtheoretischen RechtskritikRechtskritik setzte in den 1990er und 2000er Jahren ein. Die Rechtswissenschaft hatte sich in dieser Zeit der inter- und transnationalen Verrechtlichung angenommen, die nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus stattgefunden hatte. Dies gilt für den Ausbau und die Konstitutionalisierung des Völkerrechts genauso wie für die Emergenz von neuartigen Rechtsregimen, etwa im Bereich des Wirtschaftsverkehrs (lex mercatoria), des Finanzrechts (lex financiaria) oder des Umweltrechts. Die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts beobachtet in all diesen Fällen ein transnationales Recht, das aus der Globalisierung der Funktionssysteme hervorgeht[231]. Dabei löst sich das Recht in Teilen von seiner privilegierten Koppelung mit dem politischen System des Nationalstaats. Es dient anderen Funktionssystemen, und dort insbesondere der Weltwirtschaft, um normative Erwartungen zu stabilisieren. Schließlich sei das Recht, so die Annahme der Systemtheorie, durch seine Funktion zu bestimmen, so dass auch jenseits des staatlichen Gewaltmonopols oder zentralisierter Durchsetzungsmacht ein Recht jenseits des Staates zu identifizieren ist.
Die Vielfalt unterschiedlicher Regelungsbereiche mitsamt ihren teils überlappenden Kompetenzen wird als Ausdifferenzierung von Rechtsregimen fassbar[232]. Die unterschiedlichen Sozialbereiche und Funktionssysteme generieren ein je eigenes regimespezifisches Recht, das sie in vielen Fällen auf |60|Vertragsnormen und eigene Gerichtsbarkeiten oder Streitschlichtungsinstitutionen stützen. Diese Regimediagnose ist folgenreich für das Verhältnis von Recht und sozialen Konflikten. Die Widersprüche der Weltgesellschaft drücken sich in vielen Fällen in juridischen Regimekollisionen aus. So kollidiert beispielsweise das Recht des Freihandels, wie es in den 1990er und 2000er Jahren im Rahmen der WTO ausgebildet wurde, regelmäßig mit dem sozialen Recht des UN-Sozialpakts. Im Recht des Cyber-Space treffen die Grundrechte der Nutzer_innen auf das bestehende Vertragsrecht der Internetkonzerne[233]. Um einen Umgang mit diesen neuartigen Regimekollisionen zu finden, bietet sich weder ein Rückzug auf den Nationalstaat noch die Vereinheitlichung in einer politischen Weltgemeinschaft an; vielmehr erscheint ein transnationalisiertes Kollisionsrecht aussichtsreich, das die Konfliktlagen handhabbar macht und die Regime in ihre Schranken weist[234]. Die Ansatzpunkte erstrecken sich von der Verrechtlichung der nötigen Gegenmacht- und Kontrollmechanismen bis hin zu Berücksichtigungspflichten, die die Responsivität der Regime durch die »Herstellung wechselseitiger Reflexivität in den Rechtsfragmenten« sicherstellen[235].
Die Rechtsregime reichen in vielen Fällen über eine bloße Verrechtlichung hinaus. Die SystemtheorieSystemtheorie identifiziert jedenfalls nicht nur ein transnationales Recht, sondern durchaus schon Ansätze einer robusteren Konstitutionalisierung. Nicht nur der Rechtsbegriff, sondern auch die Tradition des Konstitutionalismus wird neu situiert, indem insbesondere die gewachsene Rolle eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus deutlich wird[236]. Die VerfassungVerfassung der Weltgesellschaft verwirklicht sich »(…) nicht exklusiv in den Stellvertreter-Institutionen der internationalen Politik, sie kann aber auch nicht in einer alle gesellschaftlichen Bereiche übergreifenden Globalverfassung stattfinden, sondern sie entsteht inkrementell in der Konstitutionalisierung einer Vielheit von autonomen weltgesellschaftlichen Teilsystemen«[237]. Weder die politische Weltgemeinschaft noch die Nationalstaaten, sondern die Evolution der Regime selbst bringt inkrementell aus der jeweiligen Bereichslogik heraus höherrangige Normierungen hervor, die es plausibel machen, hier Verfassungsinstitutionen zu verorten. Dies ist der Fall, wenn höherrangige Beobachtungen eintreten, die die allgemeine Verfasstheit der Regime, ihre konstituierenden Dimensionen, ihre Grenzen zu den sozialen Umwelten zum Gegenstand haben – wenn also die Normierungen der |61|Normierungen geregelt werden. Sind diese sekundären Normierungen dauerhaft mit reflexiven Sozialprozessen verkoppelt, ist von einer Verfassungsbildung auszugehen[238]. Verträge und »einfaches Recht« avancieren zu verfassungsartigen Grundordnungen, wenn die rechtliche Urteils- und Entscheidungsfindung in Gerichtsbarkeiten oder die rechtssetzenden Kommunikationen eine solche konstituierende Reflexivität ausbilden.
Von diesem Standpunkt wird eine immanente Kritik des transnationalen Konstitutionalismus möglich. Die Verrechtlichung, die seit den 1990er Jahren einsetzte, stabilisierte in vielerlei Hinsicht die Eigenrationalität der jeweiligen Regime. Sie stützte mithin ihren Expansionsdrang ab – mit den bekannten Folgen einer zunehmenden Ökonomisierung, Verwissenschaftlichung und Militarisierung der (Welt-)Gesellschaft[239]. Eine angemessene Kritik kann sich deshalb nicht auf externe Maßstäbe oder Prinzipien stützen, die sie schematisch auf die Welt anwendet. Eher sind Gegenbewegungen zum Expansionsdrang der Systeme von innen her zu stärken und im Sinne einer hybriden Konstitutionalisierung auf Dauer zu stellen:
»Eine ›hybride Konstitutionalisierung‹ ist in dem Sinne gefragt, dass externe gesellschaftliche Kräfte, also neben staatlichen Machtmitteln, rechtliche Normierungen und ›zivilgesellschaftliche‹ Gegenmacht aus anderen Kontexten – Protestbewegungen, NGOs, Gewerkschaften – in der Weise so massiven Druck auf die expansionistischen Funktionssysteme ausüben, dass sie innere Selbstbeschränkungen aufbauen,