Neue Theorien des Rechts. Группа авторов
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|32|II. Zu Paradoxa kondensieren
Weniger klassisch ist die zweite dekonstruktive Bewegung, die Derrida unter Bezug auf Montaigne oder NietzscheNietzsche, Friedrich im Freundschaftsbeispiel augenfällig demonstriert. Man wird auf das Verhältnis der Supplementarität und auf die damit einhergehende ParadoxieParadoxie in einem einzigen Satz gestoßen. Die Widersprüchlichkeit wird kondensiert an einer Stelle, an der man sie hören kann. Als Operation heißt das: Formuliere die Paradoxie und ziehe dabei den Widerspruch auf die deutlichst mögliche Form zusammen. Dazu darf man fernliegende, abseitige Methoden benutzen. Was sieht man, wenn man auf Europa sieht? Wie geht das überhaupt: auf Europa sehen? Von welchem Ort aus oder in welchem Medium lässt sich ein Erdteil überhaupt sehen? Da muss man schon eine Landkarte zu Hilfe nehmen, und wenn man über Phantasie verfügt, sieht man, dass Europa auf einer solchen Landkarte wie ein Kap aussieht oder wie eine Landspitze, die sich vor der viel größeren Landmasse des Kontinents Asien gleichsam in den Ozean schiebt[104]. Europa ist dann »ein Kap« so wie Afrika ins Kap der guten Hoffnung ausläuft oder Südamerika in Kap Horn mündet, und wenn Europa ein Kap ist, dann fragt man wegen des Gegensatzes nach dem »anderen Kap«. Eine solche Frage gelingt möglicherweise nur vor dem akademischen Publikum eines Kolloquiums über die kulturelle Identität Europas, vor dem Derrida im Jahre 1990 einen politischen Vortrag unter dem Titel »L’autre Cap«, also »Das andere Kap« hielt und nach dem Blick auf die Landkarte den Eindruck des Kaps auf das Wort übertragen hat, für das er eine zweifache Bedeutung untersucht. Das Kap ist die Kapitale und stellt eine »Frage im Femininum«[105]: »Hat eine Kapitale der europäischen Kultur heute einen Ort, gibt es einen Ort für sie?« (Kursivierung im Orig.). Die zweite, sächliche Frage richtet sich auf das Kapital, und Derrida zögert nicht, das Werk von Karl MarxMarx, Karl unter diesem Titel sogleich in seine kulturelle Identitätsfrage zu übernehmen, aber er erweitert die Frage auf den Mut »zu einer neuen Kritik der neuen Auswirkungen des Kapitals (in bislang unbekannten technisch-sozialen Strukturen)«[106]. Benutzt werden dabei rhetorische Figuren wie die Kondensation in Begriffen oder Sätzen, in denen ein einzelner Ausdruck (Freundschaft, Kap, Kapital) verschiedene Argumentationslinien oder Wertkomplexe zusammenbringt. Man wird einräumen müssen, dass der Fortgang einer Argumentation vom Bild auf einer Landkarte über die Bildung eines Wortes, dem man schließlich einen Buchstaben nimmt und einen anderen Artikel gibt, so dass man zu einem anderen Wort kommt, künstlich und nicht ohne Vorerfahrung nachvollziehbar ist. Der Weg vom Kap der guten Hoffnung über das Kap Europa zur Kapitale Europas (die es aber nicht gibt) zu MarxMarx, Karl’ »Kapital« gelingt nur Jacques Derrida. Aber eindrücklich wird diese Kondensation, wenn Derrida am Ende seines Vortrags |33|über die kulturelle Identität von den Pflichten redet, denen man genügen muss, um zum »anderen Kap« zu gelangen[107], zu dem Kap ohne Kapitale und jenseits allfälliger Akkumulation des Kapitals.
III. MetaphernMetapher ausbeuten
Der Weg dorthin ist nicht geradlinig. Die Bewegung der DekonstruktionDekonstruktion verweigert, was im platonischen Zusammenhang definitorisch heißen würde, also die Einordnung eines Wortes in ein größeres Ganzes, verbunden mit einer spezifischen DifferenzDifferenz, die dem Einzuordnenden seinen logischen Platz im Ganzen zuweist. Es gibt zwar ein Zentrum, eine Kapitale, aber die Dekonstruktion vermeidet den Hauptplatz und betont die Differenz. Solche DifferenzenDifferenz findet man, indem man einen Begriff buchstäblich untersucht, und das heißt: beim Namen nimmt. Für Derrida liegt darin eine »Aufkündigung« (suspension), eine Absage an Zustände, die auffallen. Die suspension befragt das Wort gegen seinen manifesten Sinn, indem sie am Buchstaben haftet und der bleibenden Schriftform Vorrang vor dem flüchtigen, mündlichen Ausdruck gibt. Das darf man in platonisch-sokratischer Tradition nicht machen. Wer ein Wort buchstäblich nimmt, behandelt es wie einen Namen, und dann entsteht das Gegenteil einer Definition. In der begriffssyllogistischen Tradition spricht man von »MetaphernMetapher«, und Juristen lernen, dass sie nicht metaphorisch, sondern begrifflich trenngenau reden sollen. Die dritte Operation besteht deshalb in einer zweifachen sprachlichen Bewegung. Man nimmt einen Begriff beim Namen und stellt Verbindungen her, die metaphorisch wirken und inhaltlich nutzbar gemacht werden können. Zu achten ist auf Assoziationen, mögen sie auch im Text als vollkommen nebensächlich erscheinen, mag sich der Autor im Zweifel vom Namen distanzieren und sagen, so habe er es nicht gemeint und man solle einfach ein anderes Wort benutzen. Mit der Buchstäblichkeit des Namens stößt man zur MetapherMetapher vor. Das klingt zunächst einmal rätselhaft, und bleibt es auch eine Zeitlang. Man fragt sich, wohin es führen soll und warum jemand, der die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika liest, als wesentliches Merkmal die Eingangsformel festhält (»We, therefore, the Representatives of the United States of America […] «)[108]. Man fragt sich, inwiefern die wechselnde Regieanweisung Enter the Ghost, dann exit the Ghost und schließlich re-enter the Ghost ein Drama wie »Hamlet« charakterisiert[109], und ganz ähnlich fragwürdig erscheint es, wenn ein Redner über das Recht des Stärkeren mit der Feststellung beginnt, Drehungen, Wendungen und Windungen, dazu der Turm und der Kreislauf von Runden und |34|Umrundungen bestimmten das Thema[110]. Es sind die abwandelnde Wiederholung wie der Umbau von Worten, mit denen ein Titel entwickelt und Begriffe wie Namen[111] benutzt werden, sodass ein Kap zur Kapitale wird und von dort ins Kapital hinüber gleitet.
IV. Fremdes aufpfropfen (la Greffe)
Die Bewegung aus der MetaphorikMetapher im Namensgebrauch ergreift am Ende alle, vor allem denjenigen, der gerade spricht. Er selbst könnte derjenige sein, der gerade das Recht des Stärkeren ausspielt, für das Derrida im Schurken-Essay auf die Fabel vom Wolf und dem Lamm zurückgreift, wie sie Jean de la Fontaine erzählt. Danach scheint es nur so, als wolle der Wolf mit dem Lamm über unrechtmäßige Handlungen argumentieren. Aufgepfropft wird die Gewalt: Das Lamm soll gefressen werden, weshalb die Fabel mit dem Vers beginnt: »Das Recht des Stärkeren ist das beste immerdar«[112]. Die Fabel wird der rechtstheoretischen Frage nach der Bedeutung von Macht und Gewalt »aufgepfropft«, wie Derrida es selbst nennt[113]. PfropfungPfropfung ist die vierte Operation im Dekonstruieren (wobei es keine obligatorische Reihenfolge gibt und Pfropfungen auch schon in den Gegensätzen liegen): PfropfePfropfung dem Text das Andere auf. Derrida empfiehlt la greffe für den Bau von Interpretationen. Greffer (PfropfenPfropfung) stammt als Wort aus dem Obst- und Gartenbau und ist eine aktive Operation, die Inhalte verändert wie aufgepropfte Edelreise eine Pflanze verändern. Derrida liest sein Thema wieder und wieder, in Windungen und Wendungen, vor allem die These, die Demokratie sei »im Kommen«, sie müsse erst noch entstehen, und das mehrfache Lesen ist eine wesentliche Bedingung der Pfropfung. Die These taucht gleich am Anfang auf, wenngleich in einer Verkürzung, die kaum verständlich zu sein scheint, wenn es heißt[114]: »die kommende Demokratie: dafür braucht es die Zeit, dafür muss es die Zeit geben, die es gar nicht gibt«. Den Gedanken der democratie à venir, der Demokratie-im-Kommen, bezeichnet Derrida dann als Syntagma ohne Paradigma und dekonstruiert damit gleichzeitig die Sausurresche Formation des Zeichens. Im Syntagma treten immer zwei Zeichen gemeinsam auf, etwa »Kommen« und »Demokratie«, und man versteht die damit erschlossenen Zusammenhänge, wenn man die Beispiele sieht und hört, die syntagmatisch erfasst werden[115]. Aber Derrida findet kein Beispiel vor. Die DekonstruktionDekonstruktion erschließt Neuland.
|35|V. Das Andere (er-)finden
Neuland gewinnen heißt aber nicht nicht etwas inhaltlich erobern oder besetzen, sondern Neuland gewinnt man durch eine inzwischen oft »postmodern« genannte Operation, die man in der fünften und letzten Operation so zusammenfassen kann, dass in einem Begriff oder Konzept nach dem Ausschau gehalten wird, was anders ist und die Abhängigkeit eines Terms von der Gegenwart dessen offenbart, das als Drittes weder dem Gegensatz noch dem Ausgangsbegriff angehört. Wenn ein Text falschen