Für die eigene Kontrolle von (Verwaltungs-)Gerichtsentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die materiell-rechtlich ausgerichtete Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht“ entwickelt,[293] nach der es Entscheidungen der Fachgerichte nicht auf ihre Richtigkeit hin überprüft, sondern nur darauf, ob sie bei der Anwendung des einfachen Rechts Bedeutung und Tragweite der Grundrechte erkannt und zutreffend in Rechnung gestellt haben. Die Unterscheidung ist weiter im Rahmen von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO von Gewicht, wonach die Verwaltungsgerichte nur für Streitigkeiten „nicht verfassungsrechtlicher Art“ zuständig sind. Dieses Tatbestandsmerkmal wird, das Bundesverfassungsgericht vor einer Prozessflut schützend, weit ausgelegt: Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit wird nur dann angenommen, wenn der Rechtsstreit unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte betrifft und sich auf Rechte oder Pflichten bezieht, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind (sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit). Zahlreiche Streitfragen mit verfassungsrechtlichen Bezugspunkten unterstehen damit den Verwaltungsgerichten.[294]
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Die definitorische Unfasslichkeit der Verwaltung und des Verwaltungsrechts ruhen nach herrschendem Verständnis auf der definitorischen Unfasslichkeit des Staates. Danach ist das Verwaltungsrecht das Recht der staatlichen Verwaltung. Von hieraus sei abschließend auf wesentliche Entwicklungen, ja Mutationen in unserem Gegenstand hingewiesen.[295] Man betrachte nur den Bedeutungswandel hinter dem bestimmten Artikel „der“. Ihm liegt die Vorstellung der Verwaltung als einer hierarchisch geordneten Einheit zugrunde, als die Verwaltung des (einsilbigen) Staates. Heute ist die Verwaltung aber, zunächst einmal allein organisatorisch betrachtet, allenfalls ein mehr oder weniger gut koordiniertes Gefüge.[296] Dies gilt bereits für staatliche Verwaltung in föderaler Aufstellung und verstärkt sich noch, zieht man Phänomene administrativer „Entstaatlichung“ durch Europäisierung und Internationalisierung hinzu. Die Verwaltung Deutschlands erfolgt heute, materiell wie organisatorisch, nicht allein durch deutsche staatliche Stellen und in den Bahnen des deutschen Rechts, sondern in erheblichem Maße auch durch supranationale sowie zunehmend durch internationale Stellen. Das Verwaltungsrecht wandelt sich damit im europäischen Rechtsraum von einer Teilmenge des staatlichen öffentlichen Rechts zu einem Rechtsgebiet, dessen konzeptionelle und akademische Verortung unsicher ist.[297] Bei aller Unsicherheit legt die deutsche Tradition des Verwaltungsrechts allerdings eines nahe: Seine Neubestimmung sollte als Teil einer Neubestimmung des öffentlichen Rechts erfolgen.[298]
ders., Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, 2008.
Lutz Raphael, Recht und Ordnung: Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, 2000.
Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 32002.
Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 22004.
Matthias Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht. Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis, 1992.
Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, 42009.