Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ius Publicum Europaeum - Martin Loughlin страница 28
79
Zu den Weiterungen der auf einen flächendeckenden Individualrechtsschutz zielenden Rechtsschutzgarantie gehört die Etablierung des „Rechts auf fehlerfreien Ermessensgebrauch“[246] sowie die Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff,[247] die sich in Literatur[248] und Rechtsprechung[249] durchgesetzt hat. Beides hat die (verwaltungs-)gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Verwaltung spürbar intensiviert,[250] wenn auch um den Preis eines im europäischen Vergleich deutschen Sonderweges. Größere Kritik daran ist erst in jüngerer Zeit laut geworden.[251]
80
Die Gewährleistung lückenlosen Individualrechtsschutzes hat notgedrungen einen edukatorischen Effekt auf die öffentliche Verwaltung.[252] Insoweit ist Art. 19 Abs. 4 GG ein wesentlicher Baustein des gewaltengegliederten Staates (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), der im Verein mit anderen Bestimmungen der Verfassung – namentlich Art. 93 und 100 GG – die im europäischen Vergleich herausragende Stellung der Judikative in Deutschland besonders anschaulich macht. Allerdings handelt es sich insoweit lediglich um einen Reflex, nicht um das spezifische Anliegen der Rechtsschutzgarantie. Die flächendeckende gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Verwaltung mag daher zwar ein wesentliches Charakteristikum der deutschen Funktionenordnung sein; als staatsorganisatorische Grundentscheidung würde sie jedoch missverstanden.
81
Mit Ausbau und Perfektionierung des Individualrechtsschutzes nach 1949 haben Ausmaß und Intensität der (verwaltungs-)gerichtlichen Kontrolle gegenüber der öffentlichen Verwaltung kontinuierlich zugenommen.[253] Das hat vor allem die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Augen von Politik und Wirtschaft in Misskredit gebracht, weil man in der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und nicht in dem rechtswidrigen Verhalten der Verwaltung die Ursache für lange Verfahrensdauern und die Verhinderung von Vorhaben sah. Zentrale öffentlich-rechtliche Zuständigkeiten im Bereich des Regulierungs- (§ 75 Abs. 4 des Energiewirtschaftsgesetzes) und Vergaberechts (§§ 116ff. des Gesetzes über Wettbewerbsbeschränkungen [GWB]) wurden deshalb später, anders als in den romanischen Staaten, den ordentlichen Gerichten zugewiesen.
b) Verwaltungsgerichtsbarkeit und verwaltungsgerichtliche Generalklausel
82
Zur rechtsstaatlichen Konsolidierung des deutschen Verwaltungsrechts nach 1949 gehört die Errichtung einer bundeseinheitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, wenngleich die Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesverwaltungsgerichts) Institutionen der Länder bleiben. Seit 1960 ist auf der Grundlage der Gesetzgebungskompetenz von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die Verwaltungsgerichtsordnung in Kraft.[254] Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes und der Zuweisung auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit an unabhängige Richter (Art. 97 und 99 GG) wurde der aus dem 19. Jahrhundert überkommene Streit um die Zuordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden und der Administrativjustiz eine Absage erteilt. Letzte Reminiszenzen finden sich in der in Bayern noch heute bestehenden Ressortzuständigkeit des Innenministeriums für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und wieder in der verwaltungsinternen Überprüfung von Vergabeentscheidungen in erster Instanz (§ 104 GWB).
83
Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG entzog dem Enumerationsprinzip den Boden, also der letztlich aktionenrechtlichen Konzeption, nach der die Verwaltungsgerichte für die Entscheidung bestimmter, enumerativ aufgeführter Angelegenheiten zuständig waren.[255] Dies konkretisierend vollendete die Verwaltungsgerichtsordnung mit der Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel in § 40 Abs. 1 Satz 1 eine bereits in der Weimarer Zeit eingeleitete Entwicklung.[256] Vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Zuweisungen eröffnet sie seitdem den Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art, und zwar grundsätzlich unabhängig von der Handlungsform. Deshalb sind nicht nur erlassene und unterlassene Verwaltungsakte sowie Verwaltungsverträge Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle; auch Rechtsverordnungen,[257] Satzungen, Verwaltungsvorschriften, Warnungen, Empfehlungen und Stellungnahmen werden, zumindest implizit, zum Kontrollgegenstand.
c) Der Individualrechtsschutz nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte
84
Der in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Systementscheidung entsprechend gewährt das deutsche Verwaltungsprozessrecht Rechtsschutz grundsätzlich nur bei der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte. Klagen sind nur zulässig, wenn der Kläger eine „Klagebefugnis“ besitzt, also die Möglichkeit geltend machen kann, in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 und § 47 Abs. 2 VwGO), und sie haben zudem nur dann Erfolg, wenn der Kläger nach Feststellung des Verwaltungsgerichts tatsächlich in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Über den Wortlaut des Gesetzes hinaus gilt dies für alle Verwaltungsklagen, auch in der Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit (§ 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes und § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung).
85
Angesichts der Fixierung auf den gerichtlichen Rechtsschutz kann es nicht verwundern, dass die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht und seiner Bestimmung in der letzten Phase der Herausbildung des „klassischen“ deutschen Verwaltungsrechts im Mittelpunkt vieler Debatten stand. Die Betroffenheit in einem subjektiv-öffentlichen Recht löst den Vorbehalt des Gesetzes aus, begründet Anforderungen an das Verwaltungsverfahren (§ 28 des Verwaltungsverfahrensgesetzes [VwVfG]) und hat Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen sowie für ihre gerichtliche Kontrolle.
86
Die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht steht bereits am Beginn der modernen deutschen Verwaltungsrechtsentwicklung[258] und wird – damals wie heute – nach der dem Zivilrecht (§ 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) entlehnten Schutznormtheorie beantwortet. Danach setzt die „Begründung eines subjektiven öffentlichen Rechts […] eine Norm des objektiven Rechts voraus, die geeignet ist, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung eines von der Norm mit Rechtswirkungen ausgestatteten Aktes eine Rechtsposition des Einzelnen zu begründen“.[259] Entscheidender Ansatzpunkt für die Zuerkennung eines subjektiv-öffentlichen Rechts ist in der klassischen Lehre die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, der nach überkommener Auffassung bei der Ausgestaltung der Verwaltungsrechtsverhältnisse festlegen muss, welche Vorschriften (auch) Individualinteressen dienen und deshalb subjektiv-öffentliche Rechte begründen.
87
Konsequenterweise erscheinen das Gesetz und die es konkretisierenden Normen, Verwaltungsakte und Verwaltungsverträge damit als entscheidende Grundlage der subjektiv-öffentlichen Rechte, so dass sich die verwaltungsrechtlichen Probleme vor allem auf die richtige Auslegung der einschlägigen Normen