Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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Nach der Schutznormtheorie traditioneller Lesart ist der Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte grundsätzlich frei. Er kann aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit oder der Verwaltungseffektivität davon absehen, die Regelungen eines Gesetzes auch in den Dienst seiner Adressaten zu stellen. Mitunter nimmt er diese Beschränkung sogar ausdrücklich vor und regelt, dass bestimmte Verwaltungsaufgaben allein im öffentlichen Interesse erledigt werden (siehe etwa § 3 Abs. 3 des Börsengesetzes und § 23a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes). Es liegt freilich auf der Hand, dass dieser aus dem 19. Jahrhundert stammende Ansatz in einer Rechtsordnung, in der auch der Gesetzgeber an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG) und in der diese nahezu alle Interessen und Verhaltensformen des Einzelnen schützen, jedes Gesetz also immer auch irgendwie die Grundrechte der Bürger berührt, nicht aufrecht erhalten werden kann. Soweit der objektive Regelungsgehalt eines Gesetzes daher grundrechtlich geschützte Interessen berührt, empfängt er von diesen auch im Hinblick auf die Zuerkennung subjektiver Rechte „norminterne Direktiven“, denen sich der Gesetzgeber nicht entziehen kann. Dabei macht es keinen prinzipiellen Unterschied, ob das in Rede stehende Gesetz bipolare Rechtsverhältnisse zwischen dem Einzelnen und dem Staat ausgestaltet oder ob es multipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse im Rahmen einer normativen Ausgleichsordnung konstituiert,[260] wie sie etwa zwischen Anlagenbetreibern, Staat und Nachbarn im Bau- oder Immissionsschutzrecht existieren. Konsequenterweise muss die Frage, ob eine bestimmte Norm für den Einzelnen ein subjektiv-öffentliches Recht begründet aufgrund einer sorgfältigen Einzelnormanalyse[261] entschieden werden, bei der zunächst und vorrangig die norminternen Direktiven zu bestimmen sind, die das Gesetz von den Grundrechten empfängt.
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Der Weg zu dieser Einsicht war steinig und ist noch immer nicht vollständig durchschritten. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass seit Beginn der 1970er Jahre eine signifikante Ausweitung der subjektiv-öffentlichen Rechte stattgefunden hat, bei der die – erst später so genannten – norminternen Direktiven der Grundrechte zumindest im Hintergrund die entscheidende Rolle gespielt haben und das Dogma von der politischen Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte zu Recht ins Wanken geraten ist.
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Unproblematisch gestaltete sich dies für die bipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den weiten Schutzbereich der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) anerkannt hatte, stand fest, dass die Auferlegung jeglicher Pflicht einen – rechtfertigungsbedürftigen – Grundrechtseingriff darstellt und dass jedermann, gestützt jedenfalls auf Art. 2 Abs. 1 GG, insofern auch einen Anspruch auf Freiheit vor gesetzlosem wie gesetzwidrigem Zwang geltend machen kann. Daher geht die – von Rechtsprechung und Lehre einmütig akzeptierte[262] – sog. Adressatentheorie davon aus, dass der Adressat eines ihn belastenden Verwaltungshandelns grundsätzlich einen umfassenden Anspruch auf dessen Rechtmäßigkeit besitzt – von der Einhaltung der behördlichen Zuständigkeitsordnung über das Verwaltungsverfahren bis hin zu der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Vergleichbares gilt, soweit das Gesetz der Ausgestaltung grundrechtlich radizierter Teilhabeansprüche dient.[263] Im Bereich bipolarer Verwaltungsrechtverhältnisse hat dies eine weitgehende Subjektivierung des Gesetzmäßigkeitsprinzips zur Folge.
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Schwieriger gestalteten sich die Dinge im Bereich multipolarer Verwaltungsrechtsverhältnisse, was auch mit der nur zögerlichen Anerkennung faktischer Grundrechtseingriffe zusammenhing. Im Detail bereitet die Bestimmung der subjektiv-öffentlichen Rechte hier nach wie vor erhebliche Probleme; der Trend zu ihrer substantiellen Ausdehnung unter Rückgriff auf die Grundrechte und ihre norminternen Direktiven ist jedoch eindeutig. Das mögen zwei Beispiele belegen: Im Bau- und Planungsrecht nutzte das Bundesverwaltungsgericht in seiner berühmten Schweinemäster-Entscheidung das „Gebot der Rücksichtnahme“, um eigentlich rein objektiv-rechtlich konzipierten Normen wie den Regelungen über die Zulässigkeit von Bauvorhaben in Gebieten, für die kein Bebauungsplan erlassen ist (§§ 34 und 35 des Baugesetzbuches),[264] unter qualifizierten Voraussetzungen doch Schutznormcharakter für die Nachbarschaft zuzusprechen, was in der Sache nichts anderes war als ein kaschierter Rückgriff auf die norminternen Direktiven der einschlägigen Grundrechte der Nachbarn, vor allem des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 und der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG.[265] Im öffentlichen Wirtschaftsrecht, um ein zweites Beispiel zu nennen, begann die Literatur schon 1970, kommunalrechtliche Vorschriften, welche die kommunale Wirtschaftstätigkeit begrenzten, wegen der Ausstrahlungswirkung der in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Berufsfreiheit als subjektiv-öffentliche Rechte der privaten Konkurrenten zu qualifizieren.[266] Es sollte aber noch weitere 35 Jahre dauern, bevor die Verwaltungsgerichte nach verschlungenen Umwegen über das Wettbewerbsrecht[267] das eigentlich Offensichtliche anzuerkennen begannen.[268] Vergleichbares gilt für die späte Anerkennung des Allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) im Vergaberecht.[269] Mit der nach 1990 einsetzenden flächendeckenden Europäisierung des Verwaltungsrechts und der Flut unionsrechtlich begründeter individueller (Klage-)Rechte hat die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte aufgrund nationaler Entscheidungen mittlerweile jedoch erheblich an Bedeutung verloren.[270]
4. Die Verwaltung und das demokratische Prinzip
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In der Perspektive des klassischen deutschen Verwaltungsrechts kommt der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft eine überragende Bedeutung zu. Der Bürger erscheint in ihr vor allem als natürlicher Widerpart der Verwaltung, deren „Eingriffe“ in seine Rechtssphäre er auf der Grundlage des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts und mit Hilfe (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes abzuwehren oder auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken sucht. Dass das Verwaltungsrecht vor diesem Hintergrund rechtsschutzzentriert sein muss, liegt auf der Hand.
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Diese Perspektive ist zeitlos gültig, denn nicht nur der Verwaltungs-, sondern auch der Verfassungsstaat ist freiheitsgefährdend,[271] und in zahlreichen Hinsichten ist der staatliche Zugriff intensiver denn je.[272] Gleichwohl beinhaltet sie ein im demokratischen Rechtsstaat unzulängliches Verständnis des Bürgers.[273] Das allein rechtsstaatlich ausgerichtete Verwaltungsrecht begrenzt den Bürger auf die gesellschaftliche Sphäre und seine individuellen Rechte. Die Sorge um das Gemeinwohl als solches verbleibt „dem Staat“, „der Verwaltung“, in der Tradition einer „Obrigkeit“, die des Bürgers insoweit nicht bedarf.
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Die Rechtsschutzzentriertheit des deutschen Verwaltungsrechts hatte zudem eine problematische Blickverengung des Verwaltungsrechts zur Folge, in welcher der Stellenwert des (objektiv-rechtlichen) Gesetzmäßigkeitsprinzips sowie die Steuerung und Effektivität der Verwaltung zu stark an den Rand gedrängt wurden. Das sollte das deutsche Verwaltungsrecht in der Konfrontation mit den Anforderungen der Europäisierung mitunter als besonders schwerfällig erscheinen lassen, etwa mit Blick auf die Vorschriften über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (§§ 48ff. VwVfG). In den 1990er Jahren sollte dies den Ruf nach einer „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ auslösen, deren zentrales Anliegen es ist, die „klassische“ Rechtsschutzperspektive durch eine Steuerungsperspektive