Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
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Den erratischen Versuch, die Weite der alten Polizeiwissenschaft in einer modernen Verwaltungslehre fortzuschreiben, unternahm der hegelianisch inspirierte Gesellschaftstheoretiker Lorenz von Stein (Die Verwaltungslehre, 7 Theile, 1865–1868), der in seinem Konzept eines sozialen Königtums die Verwaltung als den tätigen, arbeitenden Staat mit einer Korrektivfunktion gegenüber der Gesellschaft ausstattete. Da das Verwaltungsrecht dabei „aus dem Wesen des zu Verwaltenden“ zu bilden sei,[18] konnte ihmzufolge die Verwaltungsrechtswissenschaft lediglich als unselbständiges „Correlat der Verwaltungslehre“ begriffen werden, wenngleich ausgebildet zu einem „System des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts“.[19] Programmatisch sprach von Stein von einem europaweit „vergleichenden Verwaltungsrecht“ und schichtete einen die Organe und Prinzipien betreffenden „allgemeinen Theil“ von einem auf die Verwaltungsgebiete und -aufgaben bezogenen „besonderen Theil“ ab.[20] Seinem gemeineuropäischen Ansatz zufolge nahm er dabei die Verhältnisse zahlreicher europäischer Staaten in den Blick, etwa in dem 1876 in zweiter Auflage erschienenen „Handbuch der Verwaltungslehre mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England, Deutschland und Österreich“ oder noch ausgreifender in dem seit 1860 erscheinenden „Lehrbuch der Finanzwissenschaft“, in dem in der fünften und letzten Auflage 1885/1886 darüber hinaus auch Italien und Russland in die Darstellung einbezogen wurden. Nicht ohne ein gewisses nationales Selbstbewusstsein sah von Stein dabei die deutsche Verwaltungstätigkeit als eine Art gelungene Synthese aus Englands staatsfreier Selbstverwaltung und Frankreichs nahezu selbstverwaltungsfreier Staatsverwaltung an. Wie sehr gerade das französische Verwaltungsrecht zeitgenössisch interessierte, belegt nicht zuletzt Robert von Mohls dreibändige Enzyklopädie „Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften“ (1855–1858), die einen umfangreichen Bericht speziell über die französische Literaturentwicklung lieferte. Bei aller Bewunderung der Systematik von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft in Frankreich fehlte nicht die Kritik an der hohen Zentralisation sowie der weit ausgedehnten Staatstätigkeit.
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Rechtspolitische Anstöße, insbesondere in Richtung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, vermittelte der rechtsliberale Rudolf von Gneist, der ausgehend vom englischen Verwaltungsrecht und der Idee des selfgovernment mit zahlreichen rechtsvergleichend gehaltenen Schriften für Rechtsstaatlichkeit und Selbstverwaltung eintrat, unter anderem für eine ehrenamtliche Beteiligung an der Verwaltung, um so den Gegensatz zwischen Obrigkeit und Bürger abzumildern. So resümierte er 1869 im Vorwort zu „Verwaltung – Justiz – Rechtsweg. Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Verhältnissen“ die Vorbildwirkung der „Vergangenheit und Gegenwart Frankreichs und Englands“ für die bürgerliche Freiheit in Deutschland. Insgesamt neigte von Gneist zu einer Idealisierung der englischen Verhältnisse, denen er das unter dem Partikularismus der Klassen leidende französische System diametral entgegensetzte. Das deutsche Staats- und Verwaltungswesen schien ihm dagegen insbesondere auf Grund der ausgeprägten gesellschaftlichen Harmonie durchaus ebenbürtig. Von Gneists rechtsvergleichende Methode zielte keineswegs auf eine kritiklose Rezeption von historisch und sozial inkompatiblem fremden Recht, sondern auf ein auf die deutschen Verhältnisse und Reformbedürfnisse passendes Destillat. In den universal angelegten Arbeiten von Gneists wie auch von Steins spiegelt sich in gewissem Maße auch das Nachglimmen des alten Polizei- und Wohlfahrtstaatsgedankens wider. Der aufkommende Rechtsstaat führte allerdings zu einer Funktionsverlagerung der Verwaltung von der vorsorgenden zur vollziehenden Gewalt, wodurch das „Verwaltungsrecht die gültige und äußerliche Formulierung der Verwaltung selbst“ wurde.[21]
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Die Schwächen der zunächst vorherrschenden staatswissenschaftlichen Darstellung der verwaltungsrechtlichen Materien lagen auf der Hand. Noch einer Stoffordnung nach Verwaltungszweigen und einer entsprechend additiven wie narrativen Darstellungsweise verpflichtet, vermochte sie kaum, Gemeinsamkeiten und Querverbindungen zwischen den einzelnen Materien des Verwaltungsrechts herauszuarbeiten. Aufgrund dieser Systematisierungsdefizite war die Entwicklung eines veritablen Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts nicht zu erreichen, obwohl entsprechende Versuche einzelner Vertreter dieses Ansatzes zu verbuchen sind. Dem Durchbruch zum Allgemeinen Teil im Wege stand auch ein Ballast an heute mitunter abstrus anmutenden volkswirtschaftlichen, technischen, historischen und politischen Argumentationsführungen und Erwägungen.
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Letzteres durchaus auch als Stärke der staatswissenschaftlichen Herangehensweise anerkennend, die durch den „Anschluß an das System der Verwaltungslehre“ ein „umfassendes Kulturbild der Gegenwart“ liefere und „künftigen Geschlechtern vielleicht noch interessanter sein“ werde als die Sicht der „rein juristischen Seite“[22], hat Otto Mayer die juristische Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft auf ihren „unübertroffenen Höhepunkt geführt“[23]. Er gilt als der „eigentliche Schöpfer und Klassiker der modernen deutschen verwaltungsrechtlichen Methode“[24], in der politische und historische Erwägungen weitgehend eliminiert waren. Ihm gelang die Herausarbeitung verwaltungsrechtlicher Institute und eines Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts, dem auf Grund des erreichten Abstraktionsgrades eine starke Folgewirkung vergönnt war. Unter Konzentration auf die Rechtsform prägte er bis heute relevante Grundbegriffe des „wohlgeordneten Verwaltungsrechts“ des bürgerlichen Rechtsstaates, unter anderem den „Verwaltungsakt“, den „Vorrang“ und den „Vorbehalt des Gesetzes“, um so der Herrschaft des Gesetzes auch im Einzelfall die Bahn zu ebnen.[25] War namentlich der Verwaltungsakt der zeitgenössischen Wissenschaft durchaus geläufig, Mayer gestaltete ihn, orientiert an der Urteilsähnlichkeit des französischen acte administratif, zu einem der Verwaltung zugehörigen obrigkeitlichen Ausspruch, „der dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll“.[26] Mayer hatte neun Jahre vor Erscheinen des ersten Bandes seines Hauptwerkes „Deutsches Verwaltungsrecht“ (2 Bde., 1895/1896) in einer richtungsweisenden Monographie die französische Verwaltungsrechtswissenschaft dargestellt,[27] die anders als das anglo-amerikanische Verwaltungsrecht in den europäischen Staaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts vielfältig rezipiert wurde und als die international elaborierteste galt. Sein rechtsvergleichendes Projekt verfolgte er dabei zunächst im Wege einer systematischen Durchbildung des ihm keineswegs hinreichend geordnet und allgemeingültig erscheinenden französischen Verwaltungsrechts. Mayer entwickelte hierzu Ordnungsbegriffe und begründete ein neues Darstellungssystem, nicht mehr ausgerichtet an den Zuständigkeiten, wie bei den französischen Juristen, sondern am Modus, am „Wie“ des Verwaltungshandelns, d.h. an den Einwirkungsformen der Exekutivgewalt. So verlieh er anknüpfend an seine am französischen Recht entwickelte Systematisierung auch der deutschen Wissenschaft vom Verwaltungsrecht eine neue Gestalt mit sehr eigenständiger Ausrichtung, nicht zuletzt einseitig auf die obrigkeitlich auftretende, befehlende und eingreifende Verwaltung.
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