Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
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b) Kritik der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“
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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ sieht sich als Ergebnis einer Krise, die gegen Ende der achtziger Jahre eine „tief greifende Umbruchphase“ im deutschen Verwaltungsrecht eingeleitet habe.[93] Vollzugsdefizite, belegt durch empirische Implementationsforschung namentlich im Umweltrecht, sowie verbreitete Kooperations- einschließlich paralegaler Duldungspraktiken, Informationsdefizite und -dilemmata, ungeheure Aufgaben- und Komplexitätszuwächse, schließlich der untergründige „Wandel des bürgerlichen Rechtsstaats zum intervenierenden Wohlfahrts- und Präventionsstaat“ erforderten einen „grundsätzlichen Umbau des Verwaltungsrechts und seiner Dogmatik“.[94] Der doppelspurige Ansatz umschließt ein über das herkömmliche normverwertende Wissenschaftsverständnis hinausgehendes, auf Dauer gestelltes rechts- und verwaltungspolitisches Reformanliegen, um dem „komplexen Zusammenhang zwischen Rechtsetzung, konkreter Entscheidung und Vollzug“ gerecht werden zu können.[95] Damit verbunden ist die Ergänzung der rechtsakt- um eine wirkungsbezogene Sicht auf das nunmehr primär als Verhaltens- und nur sekundär als Kontrollprogramm verstandene Verwaltungsrecht.[96] Die explizite Einbeziehung der Frage nach der „Zweckmäßigkeit einer Lösung“ samt der Erklärungskraft entsprechender wissenschaftlicher Argumente bedingt eine Schwerpunktverlagerung von der rechtsaktfixierten Dogmatik auf eine „problemorientierte Handlungsperspektive“.[97]
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Proklamiert im Einleitungsaufsatz eines dreibändig angelegten Handbuchs des Verwaltungsrechts, das die Erkenntnisse von zehn Tagungsbänden zur „Reform des Verwaltungsrechts“[98] systematisieren und fortschreiben will,[99] bezeichnet „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ kein fertiges und homogenes Programm, sondern zeigt eine Richtungsänderung mit im Einzelnen noch unklarem Bewegungsverlauf an. Konzeptionell offen erscheint noch die Frage der Anlehnung entweder an den verwaltungswissenschaftlichen Steuerungsbegriff,[100] der eine Unterscheidbarkeit von Steuerungssubjekt und -objekt voraussetzt, oder den sozialwissenschaftlichen Leitbegriff „Governance“.[101] Letzterer eröffnet eine institutionalistische Perspektive auf Regelungsstrukturen, toleriert Grenzverwischungen aller Arten, legt den Anschluss an Netzwerkmodelle nahe und kann hybride Phänomene gegenwärtiger Verwaltung beschreiben, sperrt sich allerdings gegen klare normative Kompetenz- und Verantwortungszuschreibungen. Auch das mit dem Begriff des „Gewährleistungsstaates“ verbundene Konzept der „Regulierungsverwaltung“ sowie der „hoheitlich regulierten gesellschaftlichen Selbstregulierung“[102] bietet lediglich einen begrenzten, zudem „ungefilterten“[103] Zugriff auf die Verwaltungswirklichkeit, da sich dem modalen Ansatz keine Regulierungstatbestände und -maßstäbe entnehmen lassen. Greifbar ist das Anliegen einer problem- und wirkungs-, d.h. auch effizienzorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft, die die Bereitstellungs- und Bewirkungsfunktion von Recht ebenso berücksichtigt wie die „Qualität staatlich verantworteter Aufgabenerfüllung“ und die „Pluralität von normativen Legitimationsbausteinen“.[104] Nicht in der Sache, aber in der Konzentration und Verdichtung neu ist die Herausstellung des „Verfahrens-, Organisations- und Haushaltsrechts als wichtige Steuerungsressourcen“, die Betonung konsensualer, informaler und auch privatrechtlicher Techniken der Normumsetzung.[105] Neu vermessen werden unter Einbeziehung unter anderem der „Gewährleistungsverwaltung“ und des unübersehbaren Trends der „Ökonomisierung“ des Verwaltungshandelns die Typen hoheitlicher, kooperativer und privater Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben sowie Formen staatlicher Marktteilnahme.[106]
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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ übt nicht nur, sondern erntet auch massive Kritik, insbesondere ihre „Selbstausrufung“, die durch „Großschreibung den Anspruch auf die Verkörperung einer Epoche“ ankündige,[107] teils schon assoziiert mit „Neuer Republik“.[108] In der Tat stellt sich, wie vormals schon bei der Diskussion über das „Neue Verwaltungsrecht“, die Frage, inwieweit die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ mehr ist als eine „rein verbale Innovation“.[109] Ob sie am Ende einen „Quantensprung“ und „Traditionsbruch“ auslösen wird, bleibt abzuwarten.[110] Nüchterne Betrachtung anerkennt bereits jetzt die Bereicherung um „zusätzliche Themen und Perspektiven“ sowie die „sorgfältige Erweiterung und Ergänzung der Problemtafel“.[111]
c) Theorie und Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft
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Welche Methoden als Mittel und Wege der Problemlösung und Zielerreichung in der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Anwendung kommen, hängt davon ab, was deren Aufgaben, Probleme und Ziele sind. Ihr liegt kein natürlich gegebener Gegenstand „Verwaltungsrecht“ zugrunde, der sich schlicht aus der Summe aller Rechtssätze einer festumrissenen und wissenschaftlich wohldefinierten Entität „Verwaltung“ ergeben würde. Vielmehr bedarf es zunächst einer Theorie dessen, was Verwaltungsrecht ausmacht und umfasst, die auch an einer Beschäftigung damit, wie der Bereich der „Verwaltung“ für ihre Zwecke sinnvoll aufgefasst werden kann, nicht vorbeikommt. Bereits dieser Bezugsrahmen, zu dem die Bestimmung der Ziele rechtswissenschaftlicher Forschung hinzutritt, sorgt für eine gehörige Komplexität des Methoden- und Theorieproblems und gestaltet sowohl die hiermit zumindest implizit belastete Wissenschaftstradition als auch die dies offen reflektierende gegenwärtige Diskussion zu einem „unübersichtlichen Terrain“.[112] Eine Reduktion der Verwaltungsrechtswissenschaft auf Normauslegung verfehlte folglich sowohl ihre historische als auch gegenwärtige Gestalt. Gewiss gehört auch die Interpretation verwaltungsrechtlicher Normen zum Beritt der Verwaltungsrechtswissenschaft, aber sie ist theoretisch voraussetzungsvoll jenseits der Fragen eines auf Textverständnis ausgehenden Methodenkanons. Auch und gerade das Wissenschaftsprogramm eines Otto Mayer zielte nicht primär auf gesetzespositivistische Erfassung und Auslegung eines gegebenen Normenbestandes. Im Sinne eines wissenschaftlichen Positivismus mit theoretischen wie politischen Hintergrundannahmen über das, was etwa Staatsgewalt und Rechtsstaatlichkeit bedeuten, ging es ihm vorrangig um eine Begriffs- und Typenbildung, die erst später, wenn auch nur teilweise, gesetzlich rezipiert wurde. Hieraus ergibt sich schon in den Anfängen eine Vielgestaltigkeit der juristischen Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft, die nicht klischeehaft verengt werden kann. Entsprechend voraussetzungsreich fällt der allgemeine Anspruch aus, in der Verwaltungsrechtswissenschaft „juristisch“ zu arbeiten. Was immer das im Einzelnen bedeuten mag, letztlich wird sich niemand von diesem Etikett verabschieden. In dieser unspezifischen Fassung kann die juristische Methode durchaus zur „Sinnmitte“ der (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft erhoben werden[113] und lassen sich die ihr zugeordneten Funktionen unter anderem von Rationalitätsgewähr, Orientierungssicherheit, Entlastung und Kontrolle[114] als Funktionen modernen Rechts und seiner wissenschaftlichen Abbildung verstehen.
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Einen zentralen methodologischen Ausgangspunkt bildet die Normativität des Verwaltungsrechts, was auf der einen Seite die Eigentümlichkeiten und den Eigensinn von Recht markiert und eine Konzentration auf die Aufbereitung „normativen Wissens“ verlangt,[115] auf der anderen Seite die Bewirkungsfunktion von Rechtstexten unterstreicht, die es durch die Rechtsarbeit wirksam zu entfalten gilt.[116] In einem starken Sinne wird Normativität als „Wirklichkeitsphänomen“, als „fester Bestandteil“ der gesellschaftlichen Realität begriffen[117] und dem disziplinären Diskurs sogar anempfohlen, einmal die „Perspektive umzudrehen“ und die „juristische Rekonstruktion der Verwaltung den Sozialwissenschaften als ein Beschreibungsangebot zu unterbreiten“, zumal es in der Tat „keine Verwaltung ohne Verwaltungsrecht“ gibt.[118] Da Normen nicht nur im strikten Sollensmodus nach ihrem Geltungssinn mit spezifisch normativen Methoden bearbeitet werden können, sondern auch einer deskriptiven Erfassung zugänglich sind, erscheinen damit Brückenschläge zu empirisch verfahrenden Wissenschaften keineswegs ausgeschlossen.[119] Die hochgradig normative Verfassung der Verwaltung nicht nur, aber ganz wesentlich durch positives Verwaltungsrecht sichert spezifisch juristischen Methoden in der Verwaltungsrechtswissenschaft wie auch in der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtspraxis