Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
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Schrittweise hat sich, ähnlich wie im Italien der Nachkriegszeit, aber im Gegensatz etwa zum vergleichsweise offeneren französischen Verwaltungsrechtssystem, im bundesrepublikanischen Verwaltungsrecht und seiner Wissenschaft die „durchgängige Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts“ durchgesetzt,[57] Ende der fünfziger Jahre überspitzt formuliert in der These vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“.[58] Impulsgebend wirkte die Anordnung unmittelbarer Grundrechtsbindung jedweder öffentlichen Gewalt in Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz, verbunden mit einer allmählichen Entfaltung von Grundrechtsfunktionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die über die reine Eingriffsabwehr hinaus die auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlende objektive Wertentscheidung sowie die Teilhabe-, Schutz- und Verfahrensdimension herausstellte.[59] Hinzu trat das „formelle Hauptgrundrecht“ des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, das gegenüber der parlamentarisch gesteuerten und kontrollierten Exekutive, wiederum angeleitet durch das Bundesverfassungsgericht, jenen effektiven Rechtsschutz eröffnete, der gegenüber der monarchischen Exekutive so nie bestanden hatte.[60] In der Folge verloren nicht nur die „besonderen Gewaltverhältnisse“ namentlich in Schule, Militär und Gefängnis ihre verfassungsrechtliche Exemtionswirkung, sondern der Vorbehalt des Gesetzes erfuhr gemäß einer aus den Grundrechten, dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip hergeleiteten Doktrin eine Ausdehnung über den klassischen Eingriffsbereich hinaus auf alle „wesentlichen Entscheidungen“ im Staat, wohingegen sich ein „Totalvorbehalt“ auch im Bereich der Leistungsverwaltung[61] nicht durchsetzen konnte.[62] Die durchschlagende Verrechtlichung ging auf der Ebene des einfachen Rechts mit einer umfassenden „Subjektivierung des Staat-Bürger-Verhältnisses“ einher,[63] die im Rahmen einer „geradezu kopernikanischen Wende“ insbesondere für drittbetroffene Nachbarn und Konkurrenten im polygonalen Verwaltungsrechtsverhältnis „unter dem Gestrüpp objektiver Normen“ und vormals reiner Rechtsreflexe zunehmend subjektiv-öffentliche Rechte entdecken ließ.[64] Administrative Entscheidungsspielräume in Form von Ermessen aber auch von Beurteilungsspielräumen in bestimmten Konstellationen der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, insbesondere im Prüfungs- und teilweise im Technikrecht, unterlagen rechtlicher Disziplinierung und einer wachsenden Kontrolldichte seitens der Verwaltungsgerichte,[65] dabei immer auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung der Rechtsanwendung im Einzelfall. Über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz entfalteten schließlich auch die binnenrechtlich angelegten ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften eine die Verwaltung selbst bindende Außenwirkung.[66] Motor dieser Entwicklung waren in einem beträchtlichen Ausmaß die Verwaltungsgerichte, nicht jedoch ohne Vor- und Nacharbeit der nicht ohne weiteres zur „Verwaltungsgerichtswissenschaft“[67] abstufbaren Verwaltungsrechtswissenschaft. Zusammengenommen hat die beschriebene Verbindung von materieller Verrechtlichung, Subjektivierung und Judizialisierung rückblickend im europäischen Vergleich von einem neuen deutschen Sonderweg sprechen lassen.[68]
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Im Bereich der Handlungsformenlehre hat die Zentrierung auf den Verwaltungsakt mit den Jahren abgenommen, zumal das durch eine Generalklausel weit gestellte Verwaltungsprozessrecht ihm nicht erst seit Einführung der bundesgesetzlichen Verwaltungsgerichtsordnung (1960) seine rechtsschutzeröffnende Bedeutung genommen hatte.[69] Wissenschaftlichen Auftrieb erhielt Ende der fünfziger Jahre der verwaltungsrechtliche Vertrag durch das fast zeitgleiche Erscheinen einer Serie seine rechtliche Zulässigkeit attestierender Abhandlungen.[70] Geblieben ist jedoch eine weitgehende Fokussierung auf einen nach außen gerichteten abschließenden Entscheidungsakt, wenn auch die Betonung des „Rechtsverhältnisses“ als „viel umfassenderes Institut“[71], gerade in den leistungsverwaltungsrechtlichen Dauerbeziehungen, wie des Verfahrensgedankens,[72] noch über die Vorgaben des 1976 kodifizierten Verwaltungsverfahrensgesetzes hinaus, hier relativierend gewirkt hat. Einen teils euphorischen Aufschwung erlebten seit den sechziger Jahren das Instrument der Planung[73] und in der Folge das Planungsrecht mit einer ausziselierten Sonderdogmatik. Damit ging eine partielle Umstellung von der klassischen Konditional- hin zur vergleichsweise offenen und abwägungsabhängigen Finalprogrammierung einher, wie die in den siebziger Jahren zeitweilig wieder ambitionierte Verwaltungswissenschaft vermerkte.[74]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland › II. Die gegenwärtige Wissenschaft vom Verwaltungsrecht
a) Konsolidierung der rechtsakt- und rechtsschutzbezogenen Dogmatik
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Mit den Mitteln einer im Wesentlichen normativ orientierten Rechtsdogmatik erfolgte der Ausbau der „alten“ Bundesrepublik zum teilweise schon als hypertroph kritisierten Rechtsschutzstaat.[75] Die Perspektive von Verwaltungsgerichten und Verwaltungsrechtswissenschaft richtete sich vornehmlich auf isolierbare Rechtsakte,[76] die nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte einer justiziellen Kontrolle zugeführt und hierbei der Maßstäblichkeit der Verwaltungsrechtsordnung unterworfen wurden. Eine solchermaßen rechtsschutzzentrierte Betrachtung legte den Akzent auf das in den Rechtskreis des Bürgers hineinwirkende staatliche Entscheidungsergebnis, weniger hingegen auf das vorgängige Verfahren und die interne Organisation des Entscheidungsträgers. Im Mittelpunkt standen die materiellen Gesetzesprogramme in Form von Eingriffsermächtigungen und Anspruchsnormen,[77] die Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung, punktuelle Regelungen des Verwaltungsverfahrens sowie das Verwaltungsprozessrecht. Das einschlägige positive Recht wurde im Wege juristischer Interpretation und Begriffsbildung strukturiert und erschlossen, durch Ausbildung dogmatischer Figuren, Institute und Grundsätze[78] aufbereitet, gelehrt und angewandt. Schwierigkeiten bereitete der formgebundenen Denk- und Arbeitsweise die Verarbeitung von Innovationen, etwa des Phänomens der Planung, das sich nicht ohne weiteres in die überkommenen Kategorien fügte und zur Ausbildung eines eigenen Planungsrechts führte.[79] Anpassungsleistungen erforderte auch das Zusammentreffen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Gestaltungselemente, zuvörderst im Subventionsrecht, die Expansion der gesetzlich unterbestimmten Leistungsverwaltung,[80] das weite Spektrum administrativer Rechtsetzung,[81] die polygonale Struktur von Verwaltungsrechtsverhältnissen, die Bewältigung technischer und ökologischer Risiken mit hoher Prognoseunsicherheit,[82] das verstärkte Aufkommen informalen Verwaltungshandelns in Form von Warnungen, Empfehlungen und Absprachen[83] sowie die zahlreichen Erscheinungsformen von Privatisierung und schließlich Europäisierung im Bereich der Verwaltung. Summa summarum ließen sich die neu auftretenden Problemstellungen mit einer offen gehandhabten juristischen Methode kleinarbeiten, zumindest aber lokalisieren und illustrieren, indem der normative Bezugsrahmen durchaus kreativ, sei es in Form der Zweistufentheorie,[84] der Rechtsverhältnislehre,[85] des Verwaltungsakts mit Drittwirkung,[86] der Scheidung von Innen- und Außenrecht, Verfahrensfehlerfolgenlehre[87] oder Privatisierungstypologien[88] den Veränderungen in der Verwaltungswirklichkeit anverwandelt wurde. Größere Krisen wollen Vertreter der „alten“ Verwaltungsrechtswissenschaft rückblickend weder erkennen, noch erscheint ihnen die erreichte Gestalt ihrer Wissenschaft „grundsätzlich oder umfassend defizitär“.[89] Das seit 1980 wohl erfolgreichste Lehrbuch des Fachs bildet von einem entsprechenden Verständnis des Verwaltungsrechts als dem „Inbegriff der [...] Rechtssätze, die in spezifischer Weise für die Verwaltung [...] gelten“,[90] seinen Gegenstand rechtsdogmatisch ab, nicht ohne eine „gewisse Zurückhaltung gegenüber neuen Entwicklungen“