Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
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Zwar wirken speziell Urteil und Beschluss grds. nur zwischen den am Strafverfahren Beteiligten und es gilt der Grundsatz der Tenorbeschwer.[53] Werden Dritte aber in den Entscheidungsgründen genannt oder in einer bestimmten, bspw. ehrverletzenden Art und Weise bezeichnet, können im Einzelfall auch deren Grundrechte betroffen sein.[54] Ein solcher Fall liegt bspw. dann vor, wenn im Rahmen einer Telefonüberwachung des Verdächtigen notwendigerweise auch Dritte, mit denen dieser in Verbindung steht, überwacht und entsprechende Erkenntnisse verwertet werden.[55]
2. Gegenwärtige Betroffenheit
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Der Beschwerdeführer ist gegenwärtig betroffen, wenn die angegriffene Maßnahme – so die geläufige Formel – auf seine Rechtsstellung nicht nur virtuell, sondern aktuell einwirkt, er mit Blick auf eine künftig eintretende Wirkung zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen gezwungen wird oder wenn klar abzusehen ist, dass und wie der Beschwerdeführer zukünftig von der Maßnahme betroffen sein wird.[56] Dass insbesondere bei Verfassungsbeschwerden gegen (Straf-) Gesetze dadurch die Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG zwischenzeitlich abgelaufen sein kann, muss hingenommen werden, da sich andernfalls die Verfassungsbeschwerde doch zu einer Popularklage auszuweiten droht.[57]
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Erfolgt die konkrete Beeinträchtigung zwar erst durch die Vollziehung des angegriffenen Gesetzes, erlangt der Betroffene jedoch in der Regel keine Kenntnis von den Vollzugsakten (so bspw. bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen), reicht es für die Möglichkeit der (eigenen und) gegenwärtigen Betroffenheit aus, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt werden wird.[58] Die Verfassungsbeschwerde kann auch dann unmittelbar gegen das Gesetz gerichtet werden, wenn eine nachträgliche Bekanntgabe (vgl. z. B. § 101 Abs. 1 StPO) zwar vorgesehen ist, jedoch aus unterschiedlichen Gründen von ihr abgesehen werden kann, z. B. bei einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder von Leib oder Leben einer Person.[59]
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Der geforderte Grad der Wahrscheinlichkeit wird wiederum davon beeinflusst, welche Möglichkeiten der Beschwerdeführer hat, seine Betroffenheit darzulegen. So ist bedeutsam, ob die Maßnahme auf einen tatbestandlich eng umgrenzten Personenkreis zielt, oder ob sie eine große Streubreite hat und Dritte auch zufällig erfassen kann. Die Möglichkeit, z. B. Objekt einer Maßnahme der Telekommunikationsüberwachung zu werden, besteht praktisch für jedermann: Sie kann nicht nur den möglichen Straftäter selbst oder dessen Kontakt- und Begleitpersonen erfassen, sondern auch Personen, die mit den Adressaten der Maßnahme über Telekommunikationseinrichtungen in Verbindung stehen. Darlegungen, durch die sich der Beschwerdeführer selbst einer Straftat bezichtigen müsste, dürfen zum Beleg der gegenwärtigen Betroffenheit aber schon wegen des nemo tenetur-Grundsatzes nicht verlangt werden.[60]
3. Unmittelbare Betroffenheit
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Unmittelbare Betroffenheit liegt schließlich grds. dann vor, wenn die angegriffene Bestimmung, ohne eines weiteren Vollzugsaktes zu bedürfen, die Rechtsstellung des Beschwerdeführers verändert. Grundsätzlich muss er – außerhalb des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts – zunächst den Vollziehungsakt abwarten und sich gegen diesen wenden. Dies soll sicherstellen, dass eine Verfassungsbeschwerde erst erhoben wird, wenn eine konkrete Beschwer vorliegt,[61] und spricht damit gleichzeitig die Frage nach der ordnungsgemäßen Erschöpfung des Rechtsweges an.[62] Das gilt selbst dann, wenn das Gesetz dem Rechtsanwender keinen Entscheidungsspielraum lässt.[63]
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Unmittelbare Betroffenheit ist aber auch schon dann anzunehmen, wenn die Norm ihren Adressaten bereits vor konkreten Vollzugsakten zu später nicht mehr revidierbaren Dispositionen veranlasst.[64] Bei Normen, die den Bürgern Ge- und Verbote auferlegen (wie die Vorschriften des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts) und deren Verstoß mit Sanktionen belegt ist, lockert das BVerfG damit den Unmittelbarkeitsgrundsatz. Die Verhängung der Sanktionen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts zählen somit nicht als Vollzugsakte i. d. S., da ihr Abwarten dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann.[65] Bei strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen kann hingegen ein Abwarten dann zugemutet werden, soweit die Maßnahmen dem Betroffenen – z.B. durch offene Vornahme und Vollzug – bekannt werden.[66]
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Hinweis
Die „Sanktionswirkung“ wird vom Gericht zu Lasten der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden im Sicherheitsrecht durchaus technisch verstanden, ohne dass dies dogmatisch zwingend erscheint. Verneint hat das Gericht die unmittelbare Betroffenheit des Beschwerdeführers deshalb im Fall einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Landesgesetz über die Datenverarbeitung der Polizei, wenn die auf die entsprechenden Normen gestützte Datenerhebung noch nicht stattgefunden hat. Die Beschwerdeführer (ein Pastor, ein Polizeibeamter und ein Strafverteidiger) hatten gerügt, als potentielle Kontaktpersonen im Sinne der angegriffenen Regelungen betroffen und dadurch in ihrer Funktion als Berufsgeheimnisträger verletzt zu sein. Sie konnten aber keine konkreten Tätigkeiten anführen, die sie als wenigstens potentielle Kontakt- oder Begleitpersonen im Sinne der Vorschrift ausgewiesen hätten.[67]
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Allein die Bindungswirkung eines völkerrechtlichen Vertrages sorgt noch nicht dafür, dass der Beschwerdeführer vom entsprechenden Zustimmungsgesetz (nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) automatisch betroffen ist. Diese Betroffenheit muss genauso dargelegt werden wie bei einem rein innerstaatlichen Gesetz.[68]
Anmerkungen
Siehe für Bayern K. Huber BayVBl. 2010, 389 (390 ff.); Lindner BayVBl. 2016, 109 f.
Hinzuweisen ist freilich auf die beachtliche Kritik in BVerfGE 134, 366 (432 Tz. 138 ff.) – diss. vote Gerhardt, die verfassungsgerichtliche Identitätskontrolle (vgl. oben Rn. 100) führe mit der Zulassung einer auf die Behauptung einer Verletzung von Art. 38 Abs. 1 GG gestützten ultra-vires-Überprüfung die Popularklage durch die Hintertür ein.
Grundlegend BVerfGE 1, 97 (101 f.); BVerfGE 140, 42 (57 Tz. 55 ff.) = NJW 2016, 229. Das Gericht hat die inhaltlichen Fragen in der Folge an unterschiedlichen Stellen geprüft, so etwa in BVerfGE 72, 1 (5) = NJW 1986, 1742 (erst) im Rahmen des Rechtsschutzinteresses. Auch in der Literatur herrscht keine Einigkeit über die – hier nicht weiter interessierende – abschließende dogmatische Einordnung, vgl. Benda/Klein