Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
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Die Rüge von europäischen Grundrechten der GRCh kann demgegenüber nicht mit Erfolg im Verfahren der deutschen Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.[16]
4. „Spezifisches Verfassungsrecht“ und erweiterte Prüfungskompetenzen im Einzelfall
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Das BVerfG kleidet das Erfordernis der Grundrechtsverletzung für jedes prinzipiell rügefähige Grundrecht dann in die Formel von der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.[17] Häufig wird dies gerade bei Eingaben aus dem strafrechtlichen Bereich verkannt. Bei der Beurteilung des Sachverhalts kann sich der Verteidiger im ersten Zugriff grob an den im strafrechtlichen Revisionsverfahren gültigen Maßstäben orientieren. Ähnlich wie im Verfassungsprozessrecht folgt auch dort aus der grundlegenden prozessualen Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen Revisions- und Tatgericht, dass die Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts auf die Vertretbarkeit, nicht unbedingt die Richtigkeit der Ausgangsentscheidung beschränkt ist.[18] Das Revisionsgericht kann nicht die Tatsachenfeststellungen der Ausgangsgerichte und die Überzeugungsbildung des Richters überprüfen, geschweige denn durch eigene Feststellungen ersetzen. Eine neue Beweisaufnahme findet – mit wenigen Ausnahmen – nicht statt. Dies alles gilt auch – und erst recht – für das Verfahren vor dem BVerfG.
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Im Einzelnen folgt daraus: Bei Verfassungsbeschwerden gegen die Entscheidung eines Strafgerichts ist spezifisches Verfassungsrecht nur dann verletzt, wenn das (Fach-)Gericht die Einschlägigkeit eines Grundrecht gar nicht erkannt oder zwar erkannt, aber in seiner Bedeutung und Tragweite grds. verkannt hat und die Entscheidung auf diesem Mangel beruht.
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Über das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG hebt das Gericht im Einzelfall jedoch auch einfachrechtliche Verstöße auf die Ebene des Verfassungsrechts. Es nimmt an, dass eine Gesetzesanwendung und -auslegung, die an sich die Marge des Verfassungsrechts nicht erreicht, dann verfassungswidrig sein kann, wenn die fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht.[19] Dies entspricht wiederum u. a. der Praxis der Revisionsgerichte zu überprüfen, ob die Feststellungen der Ausgangsgerichte überhaupt eine tragfähige Grundlage für die Anwendung des materiellen Rechts bieten.[20] Feststellungen und Beweiswürdigung verstoßen demnach bekanntlich auch dann gegen sachliches Recht, wenn sie in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar sind oder allgemeinen Denkgesetzen und Erfahrungssätze zuwiderlaufen. In jüngerer Zeit haben die Kammern mit diesem Instrument mit mehreren begrifflich überzogenen Beschlüssen insbesondere der Beachtung der Senatsmaßgaben zur Anwendung des Verständigungsgesetzes gegenüber dem BGH zur Durchsetzung verholfen, weil der sog. verfassungsorientierten Auslegung der Senatsjudikatur in BVerfGE 133, 168 keine Bindungswirkung zukommt. Das hat berechtigte Kritik auf sich gezogen.[21]
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Auch im Übrigen hat das Gericht seine Prüfungskompetenzen in zumindest drei Dimensionen beständig erweitert:
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• | Zunächst stellte die extensive Auslegung von Grundrechten wie Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht im Sinne der Elfes– und Reiten im Walde-Doktrin[22] eine Richtungsentscheidung dar. Sie ermöglicht im Einzelfall den prinzipiellen verfassungsrechtlichen Zugriff auf alle vom Recht durchdrungenen Lebensbereiche. Der aus den materiellen Grundrechten in Verbindung mit dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) hergeleitete Anspruch auf ein faires Verfahren stellt einen in diesem Sinne jedenfalls von den Beschwerdeführern besonders im strafrechtlichen Verfassungsbeschwerdeverfahren gern und häufig in Anspruch genommenen allgemeinen – und vagen[23] – Prozessgrundsatz dar, welcher normativ zwischen den Ebenen des einfachen und des Verfassungsrechts einzuordnen ist. Übersehen wird dabei häufig, dass der Weite des Schutzbereichs die Weite der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG entspricht, so dass insbesondere die vielgestaltigen Emanationen der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege das Grundprinzip in seine Schranken zu verweisen vermögen.[24] |
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• | Augenscheinlich nähert sich das BVerfG der Anwendung einfachens Recht insbesondere dort an, wo es um die Verletzung des Grundrechts der allgemeinen Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG im Kontext strafrechtlicher Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Ehrenschutzes oder des politischen Strafrechts geht. Das Gericht überprüft in diesen Fällen auch, „ob jene Entscheidung bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die Meinungsfreiheit verletzt haben. Bei Äußerungsdelikten können schon die tatsächlichen Feststellungen des erkennenden Gerichts eine solche Verletzung enthalten“.[25] Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit seien verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik einstufen mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind. Sachverhaltsfeststellungen und Rechtsanwendungen dieses Inhalts könnten den Zugang zu dem grundrechtlich geschützten Bereich von vornherein verstellen. Daher müssten sie dem BVerfG in vollem Umfang nachprüfbar sein, wenn der Schutz der Meinungsfreiheit nicht unzuträglich verkürzt werden solle.[26] Eine derart extensive Auslegungspraxis in einzelnen grundrechtlich geschützten Sphären ist mit Blick auf die verfassungsrechtlich veranlasste Aufgabenteilung zwischen Fach- und Verfassungsgericht, die größere Sachnähe der Fachgerichte und die dadurch zum Teil „hausgemachte“ Überlastung des BVerfG nicht ohne – in der Regel scharfe, teils polemische und nicht ganz selten ersichtlich politisch motivierte – Kritik geblieben, die teils auch ins Grundsätzliche gewendet wird.[27] Sie mag hier auf sich beruhen.[28] |
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Auch bei der Rüge der Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes des Art. 103 Abs. 2 GG verdichtet sich der Prüfungsmaßstab zunehmend.[29] Das ist insbesondere im Bereich des notorisch unbestimmten Untreuetatbestands praxiswirksam geworden.[30] Neben der Überprüfung der Bestimmtheit der Strafnormen tritt hier die Überprüfung des von Verfassungs wegen zu fordernden Konturierungsniveaus der fachgerichtlichen Rechtsprechung. Dies gilt umso mehr, je offener ein Tatbestand formuliert ist. Saliger[31] erkennt hier drei Anforderungen: ein allgemeines Rechtsunsicherheitsminimierungsgebot, ein Präzisierungsgebot und das Gebot, dass bei offenen Tatbeständen eine gefestigte Rechtsprechung nur
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