Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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II. Zur Unterscheidung von Recht und Moral
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Zum Verhältnis von Recht und Moral existieren ganze Bibliotheken an Literatur.[69] Zur Moral sollen hier, Theodor Geiger folgend, solche sozialen Normen gerechnet werden, deren Einhaltung bei Akteur und Beobachtern von einem Gefühl innerer Verpflichtung gestützt wird. Oft tritt auch noch eine philosophische oder religiöse Überhöhung hinzu (s.o. Rn. 21).
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Das Vorliegen von Recht ist hingegen von der Existenz staatlicher Autorität abhängig: „Von einer Rechtsordnung sprechen wir nur dann, wenn innerhalb eines nach einzelnen, nebeneinanderstehenden oder ineinander verschränkten Gruppen differenzierten Gesellschaftsmilieus eine übergeordnete Zentralmacht sich gebildet hat. … Der Struktur des Ordnungsmechanismus nach unterscheidet sich die rechtliche von der vorrechtlichen dadurch, daß ein besonderer Apparat zur Handhabung der Ordnung besteht, eigene Organe dafür ausgebildet sind.“[70]
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Recht unterscheidet sich von Moral vor allem dadurch, dass die Verletzung rechtlicher Normen durch gesellschaftlich organisierten Zwang[71] beantwortet wird (etwa gerichtlich angeordneten Vollzug oder staatliche Strafe), während die Verletzung moralischer Normen in der Regel bloß durch die eigene Gruppe sanktioniert wird oder der Eigensanktionierung durch das „Gewissen“ unterliegt. Begrifflich lassen sich Recht und Moral also klar unterscheiden.[72]
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In der Aufklärung wurde die Unterscheidung von Recht und Moral gerade im Kontext der Strafrechtsphilosophie bzw. Strafrechtspolitik besonders betont.[73] Dies hing damit zusammen, dass „Moral“ damals noch fast ausschließlich „religiöse Moral“ bedeutete, und sich die Aufklärer von den Vorgaben der Kirchen absetzen wollten, ohne freilich die Macht zu besitzen, religiöse Moral direkt angreifen zu können. So sah sich Beccaria im Vorwort zur 1766 erschienen zweiten Auflage seiner Schrift „Über Verbrechen und Strafen“ gezwungen, ausführlich darzulegen, dass er keineswegs Grundsätze vertrete, „welche Tugend oder Religion zerstören“.[74]
III. Überschneidungen
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Es existiert eine Reihe von Überschneidungen zwischen Recht und Moral, die nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch von großem Interesse sind. Historisch gesehen besitzen, wie oben dargelegt (Rn. 21), Recht und Moral eine gemeinsame Wurzel. Moralische Überzeugungen spielen bei der Entstehung von Gesetzen eine große Rolle, auch wenn nicht alle Gesetzgebungsvorhaben moralisch so umstritten sind wie die Reformen des Schwangerschaftsabbruchs[75] oder der Sterbehilfe.[76] Im demokratischen Staat besteht zwischen staatlichen Gesetzen und der Sozialmoral ein enger Zusammenhang. Dies gilt auch (und gerade) für Strafgesetze.[77]
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Weicht der Inhalt der Strafgesetze zu stark von der sich stetig weiter entwickelnden Sozialmoral ab, so sinkt bei den Strafverfolgungsbehörden die Bereitschaft, die Strafnormen durchzusetzen; Interpretationsspielräume werden genutzt, um die Strafnormen der Sozialmoral anzupassen. Gleichzeitig nimmt bei den Rechtsunterworfenen die Bereitschaft zur Normbefolgung ab; vereinzelte staatliche Sanktionen werden scharf kritisiert. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine derartige Entwicklung stellt der Bedeutungsverlust der gesetzlichen Regeln über den Schwangerschaftsabbruch in den späten 70er und 80er Jahren dar.[78]
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Mit den Interpretationsspielräumen, die fast jede Strafnorm enthält, wurde bereits eine weitere wichtige Schnittstelle zwischen Recht und Moral benannt. Entscheidungsspielräume, die sich bei der Auslegung von Normen ergeben, kann der Rechtsanwender durch Eigenwertungen ausfüllen.[79] Dabei wird er sich zum einen an bereits vorhandener Judikatur, zum anderen aber an der Sozialmoral orientieren.
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Eine weitere Einbruchstelle moralischer Normen und Wertungen stellen gesetzliche Verweisungen wie § 228 StGB dar, wo ausdrücklich auf die „guten Sitten“ Bezug genommen wird. Damit wird nicht auf überpositive Moral verwiesen, aber auch nicht auf die Privatmoral des jeweiligen Rechtsanwenders. Der Verweis auf die „guten Sitten“ bedeutet vielmehr, dass der Rechtsanwender die jeweilige Sozialmoral[80] als Maßstab verwenden soll. Problematisch ist allerdings, dass der Rechtsanwender in aller Regel weder die Zeit noch die Möglichkeit besitzt, um empirische Untersuchungen vorzunehmen. Zumeist wird der Inhalt der „guten Sitten“ dem sozialen Umfeld des Rechtsanwenders und seinem eigenen „Vorverständnis“[81] entnommen sein. Da Rechtsanwender heute im Wesentlichen die Einstellungen der vorherrschenden öffentlichen Meinung teilen dürften, überrascht es nicht, dass sich in der inhaltlichen Ausfüllung der „guten Sitten“ gegenüber den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Liberalisierung vollzogen hat, die bis in die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes[82] hineinreicht.
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Darüber hinaus erfordern viele Rechtsbegriffe für ihr Verständnis den Rückgriff auf Sitte und Moral. Dies gilt etwa für den – außerordentlich vielschichtigen – Begriff der Ehre. Ehre besitzt, wer die in einer sozialen Gemeinschaft geltenden Normen der Sitte und der Moral einhält.[83] Darüber hinaus gibt es traditionell gruppenspezifische Ehrenkodizes, etwa für Adelige, für Soldaten oder für Handwerker. Aus der Ehre folgt ein bestimmter Achtungsanspruch, gerichtet auf die Einhaltung bestimmter, den Ehrträger betreffende Verhaltensregeln durch andere.[84] Das Konzept „Ehre“ ist also sowohl mit Hinblick auf die Voraussetzung der Zuschreibung von „Ehre“ als auch im Hinblick auf die Folgen dieser Zuschreibung aufs engste mit bestimmten sozialen Normen verbunden.
IV. Zur „sittenbildenden Kraft“ des Strafrechts
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Ein früher vieldiskutiertes Problem besteht darin, ob bzw. inwieweit durch die Setzung von Strafrecht die Moral beeinflusst werden kann bzw. ob die Abschaffung oder verminderte Durchsetzung strafrechtlicher Bestimmungen Auswirkungen auf die Sozialmoral hat.[85] Noch in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war bei manchen Autoren das Vertrauen in die „sittenbildende Kraft“ des Strafrechts enorm:
„Das Hauptverdienst der Strafe liegt in ihrer sittenbildenden Kraft. Sie ist das wirksamste Mittel, mit welcher der Gemeinschaftswille die soziale Wertwelt formt und festigt, neue Werte einprägt und alte im Gedächtnis erhält. Das Strafrecht predigt die sittlich-rechtlichen Grundsätze mit demjenigen Mittel, das zu allen Zeiten besonders eindrucksvoll war, mit der Macht.“[86]
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Empirisch dürfte die These von der sittenbildenden Kraft des Strafrechts allerdings kaum zu belegen sein.[87] Immerhin wird man sagen können, dass beispielsweise der Erlass des Embryonenschutzgesetzes im Jahr 1990[88] die Überzeugung von der Schutzwürdigkeit von Embryonen möglicherweise verstärkt hat; zumindest wurde den Befürwortern eines hohen Schutzniveaus ein zusätzliches Argument in die Hand gegeben. Dasselbe gilt möglicherweise für die Pönalisierung der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid (§ 217 StGB) im Jahr 2015.[89] Umgekehrt scheinen aber Tendenzen zur Entkriminalisierung selbst in moralisch besonders relevanten Kontexten nicht dazu zu führen, dass die Sozialmoral sich spürbar ändert, weil hier in der Regel (s.o. Rn.