Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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V. Radbruchs Formel
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Umstritten ist, ob die Einhaltung bestimmter moralischer Standards als Geltungsbedingung für Recht verwendet werden kann oder sollte. Der bekannteste Vorschlag dazu stammt von dem Rechtsphilosophen, Strafrechtswissenschaftler und Rechtspolitiker Gustav Radbruch (1878–1949). Rechtsnormen, die in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sind, sollen grundsätzlich auch dann gelten, wenn sie dem Rechtsanwender als moralisch bedenklich oder sogar unmoralisch erscheinen. Radbruch schlägt aber vor, von diesem Grundsatz bei extrem unmoralischen und geradezu „unerträglichen“ Rechtsnormen eine Ausnahme zu machen. Er verdeutlicht dies an der Frage nach der rechtlichen Relevanz nationalsozialistischer Rechtssetzung:
„Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt.“[96]
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Die deutsche Rechtsprechung hat Radbruchs Formel zunächst im Zusammenhang mit der Bewältigung der durch NS-Recht gestützten Verbrechen während des „Dritten Reiches“ und zum zweiten Mal im Rahmen der „Mauerschützen-Prozesse“ gegen Grenzposten der DDR eingesetzt.[97] In der Rechtsphilosophie und Strafrechtswissenschaft ist diese Rechtsprechung auf Kritik gestoßen.[98] Zum einen ist ihre Vereinbarkeit mit dem Rückwirkungsverbot zweifelhaft, zum anderen ist unklar, wie sich der Bereich des „extrem ungerechten“ positiven Rechts präziser umschreiben lässt. Radbruchs Formulierung, es sei darauf abzustellen, dass „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt“ und „Gleichheit … bewusst verleugnet“ wurde, hilft kaum weiter, da sich gerade die nach üblichem Verständnis verbrecherischsten Machthaber in aller Regel auf eine Ideologie stützen, die ihre Gesetze als „gerecht“ legitimiert. Die nationalsozialistische Weltanschauung und Rassenlehre enthält hierfür viele Beispiele.[99] Auch der Kreis der „Gleichheit“ lässt sich bei hinreichender Differenzierungsfähigkeit und Formulierungskunst leicht so bestimmen, dass er alle gesetzlichen Diskriminierungen abzubilden vermag.[100] Damit entsteht die Gefahr erheblicher Willkür auf Seiten der Rechtsanwender:
„Es besteht keinerlei Garantie oder auch nur Wahrscheinlichkeit dafür, dass jene Moral, die der betreffende Richter oder Bürger in seinen Rechtsbegriff aufnimmt, tatsächlich eine ‚aufgeklärte‘ Moral ist! [. . .] In der Regel wird der Betreffende seinem moralbehafteten Rechtsbegriff seine eigenen moralischen Vorstellungen zugrunde legen. Es spricht jedoch im Allgemeinen nichts dafür, dass die moralischen Vorstellungen eines Individuums oder irgendeiner bestimmten Gesellschaft in irgendeinem Sinn aufgeklärter (etwa ‚humaner‘ oder ‚gerechter‘) sind als die positiven Rechtsnormen des entsprechenden Staates. Man vergleiche beispielsweise die Einstellung unserer Bevölkerung und die Normierung unseres Grundgesetzes zur Legitimität der Todesstrafe. Es gibt eben nicht nur … den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit ‚Nazigesetzen‘ lieber einer humanen Moral folgen möchte. Es gibt ebenso den Richter oder Bürger, der, konfrontiert mit ‚demokratischen‘ Gesetzen …, lieber einer Nazimoral folgen möchte!“[101]
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Obwohl also Radbruchs eigene Vorschläge zur Markierung des Bereichs des schlechthin Ungerechten wenig überzeugen können, bleibt doch die Möglichkeit, auf anderen Wegen zu versuchen, einen moralischen und rechtlichen Halt zu finden, der so sicher und aussagekräftig ist, dass sich abweichendes gesetzliches Recht an ihm messen lässt. Zu denken ist insbesondere an die in der deutschen Verfassung als „Grundrechte“ positivierten Menschenrechte und die Menschenwürde sowie die entsprechenden Vorgaben auf der Ebene der Europäischen Union[102] und des Völkerrechts.[103]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › D. Werte
D. Werte
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Normen und Werte sind nicht dasselbe. Die Rede von Werten, ihrer Begründung, Bewahrung und Sicherung, ist in Recht und Rechtswissenschaft beinahe allgegenwärtig. Hinzu kommen damit eng verwandte Begriffsbildungen wie „Abwägung“, „wertende Entscheidung“ oder „Sachverhaltsbewertung“. Dem nahezu ubiquitären Einsatz des Werttopos entspricht freilich eine gewisse Beliebigkeit seines Gebrauchs: Ausdrücke wie „Wert“, „Wertung“ oder „Abwägung“[104] sind notorisch unterbestimmt und werden in zahlreichen, oft miteinander nicht zu vereinbarenden Bedeutungen verwendet. Dies rührt auch daher, dass die Rechtswissenschaft kein Monopol auf den Wertbegriff besitzt; vielmehr erheben Fächer wie die Ökonomie, die Politologie, die praktische Philosophie, die Psychologie, die Soziologie und die Theologie zu Recht den Anspruch, zum Wertphänomen Wesentliches beitragen zu können. Zu nennen ist schließlich auch die Beschwörung von „Werten“ im politischen Meinungskampf, etwa in Form von Klagen über angeblichen „Werteverfall“, der Forderung nach einer Besinnung auf die „gemeinsamen Werte“ (oder die „Werte des Grundgesetzes“[105]), oft verbunden mit dem Aufruf zur „Verteidigung unserer Werte“.[106]
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Um die Wertproblematik einigermaßen rational zu strukturieren, muss zunächst die grundlegende Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Wertverständnis eingeführt werden.
I. Wertobjektivismus
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Nach dem objektiven Wertverständnis (Victor Kraft (1880–1975) spricht auch von „Wert-Absolutismus“[107]) existieren Werte unabhängig vom menschlichen Dafürhalten.[108] Sie sind also von menschlichen Wertungen nicht abhängig. Der bekannteste Vertreter dieser Position ist der antike Philosoph Platon (428/427–348/347 v.Z.). Nach objektivem Verständnis sind Werte überzeitlich vorgegeben, sei es durch eine göttliche Setzung, durch die Natur oder auch in der Sprache. Ein objektivierbares Wertverständnis korrespondiert häufig mit einer kognitivistischen Haltung in der Moralphilosophie, also der Vorstellung, dass die Maßstäbe des Guten und Schlechten vom Menschen erkannt werden können und nicht auf unserer eigenen Setzung, oder Entscheidung, beruhen.[109]
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Die beiden bekanntesten deutschsprachigen Vertreter des Wertplatonismus im 20. Jahrhundert waren die deutschen Philosophen Max Scheler (1874–1928) und Nicolai Hartmann (1882–1950). Ihre Thesen wurden vor allem in den 50er Jahren in der deutschen Rechtswissenschaft intensiv diskutiert und teilweise sogar von der Rechtsprechung aufgegriffen.[110] Ihre Lehren wirken in zahlreichen Formulierungen und strafrechtsdogmatischen Rechtsfiguren nach, häufig ohne dass den heutigen Juristinnen und Juristen die Herkunft ihrer Sprach- und Argumentformen bewusst wäre.
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In seiner 1921 in 2. Auflage erschienenen Schrift „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ fasst Max Scheler die Grundannahmen