Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Werte besitzen eine Vielzahl von sozialen Funktionen für die Individuen und Gruppen, die sie generieren.[123] Eine der wichtigsten Leistungen von Werten ist ihre Orientierungsfunktion. In diesem Sinne definiert Hillmann: Ein „soziokultureller Wert… ist eine grundlegende, zentrale, allgemeine Zielvorstellung und Orientierungsleitlinie für menschliches Handeln und soziales Zusammenleben innerhalb einer Subkultur, Kultur, oder sogar im Rahmen der Menschheit.“[124] Ähnlich formulieren Gensicke und Neumaier: „Werte sind allgemeine und grundlegende Orientierungsstandards, die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und auf kollektiver Ebene Vorgaben machen und dabei explizit artikuliert oder implizit angenommen werden.“[125]
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Da sich Menschen in ihren Wertungen stark ähneln, existieren auch zahlreiche gemeinsame überindividuelle Werte, die sich freilich in der Reichweite ihrer Akzeptanz unterscheiden (z.B. gruppen- und schichtspezifische, gesellschaftliche usw. Werte). Für wichtige gesellschaftliche Teilbereiche, etwa das Wirtschaftsleben,[126] werden besondere Werte reklamiert. Auch universale Werte wie Freundlichkeit oder Hilfsbereitschaft sind keineswegs selten. Die modische Betonung von kulturellen Divergenzen übersieht, dass sich Menschen weltweit in zahlreichen ihrer Grundwertungen stark ähneln.[127] Hierin zeigt sich unsere gemeinsame biologische Herkunft als Mitglieder der „Menschheitsfamilie“.[128]
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Neben der Identifizierung allgemeiner, womöglich sogar universeller Wertgrundlagen existiert noch ein zweiter Weg, um mit der Relativität und Partikularität sozialer Normierungen, Wertsetzungen und Werte rational umgehen zu können: die wissenschaftliche Erfassung und Analyse unseres Wertungsverhaltens.[129] Sie zeigt uns, welche Faktoren unsere Normen und Werte bestimmen, und ermöglicht uns so, uns von unseren normativen Konstrukten kognitiv, aber auch emotional zu distanzieren. Damit werden wir in die Lage versetzt, normativierende Prozesse, die sonst oft unbewusst ablaufen, auch und gerade im Zusammenhang mit Wertkonflikten, ins Bewusstsein zu heben und kritisch zu prüfen.[130] Aus der Distanzierung und Versachlichung entsteht die Fähigkeit, zu unseren eigenen Normen und Werten kritisch Stellung zu beziehen und sie u.U. zu ändern.
III. Grenzziehungen
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Die erarbeitete Begrifflichkeit erlaubt es, einige Grenzziehungen durchzuführen. Vor allem der Unterschied zwischen Normen und Werten lässt sich nun deutlicher ausarbeiten. Werte beruhen auf Wertungen, und in Wertungen drücken sich die in einer Gesellschaft geltenden sozialen Normen aus. Damit wird deutlich, dass nicht nur zwischen den Begriffen „Wert“ und „Wertung“, sondern auch zwischen „Wert“ und „Norm“ Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede bestehen. Es wäre deshalb verfehlt, die Begriffe gleichzusetzen. Eine Norm bezieht sich auf ein erwünschtes menschliches Verhalten; sie tritt auf als Gebot, Verbot oder Erlaubnis. Dagegen bezeichnet der Ausdruck „Wert“ Vorstellungen von Wünschenswertem,[131] die nicht einmal zwingend mit menschlichem Verhalten zu tun haben müssen, man denke nur an Werte wie Schönheit oder Gesundheit.
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Recht beruht auf Werten und damit letztlich auf Wertungen. Die Metapher vom „Beruhen“ kann instrumentell[132] gedeutet werden: Gerade gesetztes Recht lässt sich am ehesten als Mittel deuten, bestimmte Werte zu realisieren. So dient etwa das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz, eine Norm wie § 212 StGB dem Schutz des Rechtsgutes „Leben“ usw. Die Rechtsgüter selbst sind als rechtlich geschützte Werte[133] anzusehen. Dies macht deutlich, wie sehr Recht auf menschlichen Setzungen beruht. Die Rede von einem „objektiven Recht“ in einem erkenntnistheoretischen Sinn ist also genauso irreführend wie die Rede von angeblich „objektiven Werten“.[134]
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Ein gerade für die Rechtswissenschaft bedeutsames Problem ist die Frage nach dem Wertewandel.[135] Dass sich individuelle wie gesellschaftliche Wertungen und Werte ändern, ist eine Alltagserfahrung. Manche Änderungen sind bloß vordergründig, andere haben fundamentalen Charakter. So war das Interesse an Privatheit im Mittelalter und der frühen Neuzeit offenbar weit weniger ausgeprägt als heute; und es spricht einiges dafür, dass im Zeitalter der sozialen Netzwerke und der ubiquitären Vernetzung das Interesse an Privatheit wieder abgenommen hat.[136] Außerdem ist offensichtlich, dass das Interesse an Privatheit kulturell geprägt ist, man vergleiche nur die entsprechenden Einstellungen in Deutschland und Europa, den USA und China.[137]
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Der Gesetzgeber wird sich beim Erlass von Gesetzen in aller Regel[138] an den zu diesem Zeitpunkt in der Gesellschaft akzeptierten und insofern geltenden Werten orientieren. Mit einem Wertewandel verlieren die Gesetze allmählich ihre Verankerung im Wertbewusstsein der Bevölkerung. Gesetze sind also meist Ausdruck älterer Werte. Darin liegt eine Hauptursache dafür, dass Juristen, die „Hüter und Interpreten der Gesetze“, oft als konservativ angesehen werden.[139] Eine Zeit lang lässt sich dieser Prozess der Distanzierung des Wertebewusstseins vom geltenden Gesetzesrecht durch eine flexible Auslegung der Gesetzesnormen auffangen, doch irgendwann können die Spannungen zwischen einer Rechtsnorm und dem gesellschaftlichen Wertbewusstsein so groß sein, dass die Norm geändert werden muss. Beispiele hierfür sind die Änderungen im Recht des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218 ff. StGB) seit Anfang der 70er Jahre oder die Aufhebung des strafbewehrten Verbots der männlichen Homosexualität (§ 175 StGB) im Jahr 1994.
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Nicht immer wirken sich neue gesellschaftliche Wertungen im Sinne einer Entkriminalisierung aus. So zeigt sich etwa im Bereich der Sexualdelikte an Kindern seit Jahren ein Trend zur Verschärfung des Strafrechts.[140] Eine gesteigerte Punitivität, d.h. der Ruf nach mehr Strafrecht und verschärften Strafsanktionen,[141] lässt sich aber auch in vielen anderen Bereichen der Kriminalpolitik feststellen.[142]
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Eine weitere wichtige Erscheinungsform von Wertewandel im Zusammenhang mit Strafe ist die wechselnde Haltung gegenüber Täter und Opfer. Seit einigen Jahrzehnten gewinnt die Opferperspektive stetig an Gewicht. Ein „Mitverschulden“ des Opfers wird anders als im Zivilrecht nur in Ausnahmefällen berücksichtigt (vgl § 202a StGB).
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › E. Die Menschenwürde als Leitwert jeder humanen Rechtsordnung
E. Die Menschenwürde als Leitwert
jeder humanen Rechtsordnung
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Der Leitwert der deutschen Verfassungsordnung ist die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 1 EU-Charta). Es handelt sich nicht bloß um ein rechtliches, sondern auch um ein ethisches Konzept, wobei der Begriff in der Ethik in zahlreichen, oft ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird.[143] Die Orientierung des Rechts an der Menschenwürde ist die Kernforderung des juristischen Humanismus.[144]
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Ausgangspunkt für die juristische Bestimmung der Menschenwürde i.S.v. Art. 1 GG sollte die Tatsache sein, dass die Menschenwürdegarantie unserer Verfassung eine Reaktion auf die schlimmsten Verbrechen des