Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › H. Bereichsspezifische Sitten, Bereichsmoralen und das Standesrecht
I. Gruppenspezifische Normen
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Neben den religiös gestützten Werten und Moralvorstellungen existieren noch viele andere Formen sozialer Normen in der Gesellschaft. Viele von ihnen sind bereichsspezifisch, d.h. sie gelten nur innerhalb bestimmter sozialer Gruppen. Sie können von bloßer Gewohnheit (mit bloß geringer normativer Wirkung) bis hin zum ausdifferenzierten Berufsethos[198] reichen; teilweise sind bereichsspezifische Regelungen sogar als Standesrecht festgeschrieben.[199] In Europa und den USA scheint die Bedeutung derartiger Normierungen „unterhalb“ des staatlich gesetzten (Straf-)Rechts zurückzugehen, während sie in Ostasien, gerade in Japan, nach wie vor eine sehr große Rolle spielen, auch und gerade im Zusammenhang mit der Kriminalitätsprävention.[200] Im sog. „Kommunitarismus“, einer in den 1970er Jahren v.a. in den USA und Kanada aufgekommenen Strömung in der Moralphilosophie, wird die Relevanz von bereichsspezifischen Moralen betont und ihre Stärkung gefordert.[201]
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Einen Sonderfall einer nicht gruppenspezifischen, sondern eher „tätigkeitsspezifischen“ bereichsspezifischen Moral bilden solche Moralanforderungen, die an bestimmte Tätigkeiten anknüpfen.[202] Beispiele hierfür sind die „Steuermoral“, die „Zahlungsmoral“ oder auch die „Kampfmoral“. Gemeint damit ist die jeweils spezifische Einstellung von Personen als Steuerpflichtige, Zahlungspflichtige oder Soldaten. Derartige tätigkeitsspezifische Moralen sind wohl nur dann empirisch zu fassen, wenn man auf die jeweiligen Subjekte abstellt und z.B. die Zahlungsbereitschaft einer bestimmten Gruppe von Menschen zu einer bestimmten Zeit und in einem überschaubaren örtlichen Zusammenhang betrachtet. Auf diese Weise lassen sich tätigkeitsspezifische Moralen auch als gruppenspezifische Normkomplexe analysieren.
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Eines der wichtigsten Beispiele für eine gruppenspezifische Moral ist das Handwerkerethos oder das Ethos der Handeltreibenden mit seinem Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“, also die Summe aller moralischen Sondernormen, die sich am Leitbild eines „ehrbaren Kaufmanns“ orientieren. Sieht man genauer hin, so findet sich in fast allen traditionellen Berufen ein entsprechendes Ethos. Durch derartige Normen definiert der jeweilige Berufsstand seinen idealen Vertreter. Für die Herausbildung einer Gruppenidentität – mit Rückwirkungen auf das individuelle Handwerkerethos – sind derartige gruppenspezifische Moralen von größter Bedeutung.
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Es ist bemerkenswert, dass eine starke Verrechtlichung (auch und gerade mit den Mitteln des Strafrechts) gruppen- bzw. berufsspezifische Moralordnungen offenbar zurückdrängen und u.U. so stark schwächen kann, dass das überkommene Ethos nur noch als Folklore weiterlebt oder sich ganz auflöst.[203] Derartige Verrechtlichungsschübe sind schon deshalb problematisch, weil das gruppenspezifische Ethos Verhalten oft besser zu regulieren vermag als die als fremd und aufgezwungen empfundenen Rechtsnormen. Mit der Auflösung der gruppenspezifischen Moralordnung geht daher nicht selten eine Auflösung oder zumindest Abschwächung auch der individuellen Moral (etwa einer Handwerkermoral) einher.
II. Standesrecht
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Als Standesrecht bezeichnet man das Recht eines Berufsstandes, dem der Gesetzgeber die Befugnis übertragen hat, die bereichsspezifischen berufsbezogenen Moralvorstellungen in Rechtsform selbst zu verwalten.[204] Dieses Recht wird traditionell vor allem den sog. „freien Berufen“,[205] insbesondere Ärzten und Rechtsanwälten, zugestanden.
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Standesrecht besitzt für die Rechtsordnung, auch und gerade die Strafrechtsordnung, eine große Bedeutung. Durch den Verzicht auf eine eigene rechtliche Regelung erkennt der Staat die Eigenständigkeit und Bedeutung der jeweiligen Berufsgruppe an. Sie wird in die Lage versetzt, ihr eigenes Berufsethos in rechtliche Formen zu gießen. Auf diese Weise können die eben erwähnten negativen Auswirkungen einer Verrechtlichung vermieden oder zumindest abgeschwächt werden. Zugleich wird das jeweilige Ethos explizit gemacht und kann so gezielt fortentwickelt werden. Standesrecht normiert in aller Regel Detailfragen, die von der allgemeinen Rechtsordnung nicht entschieden werden. Standesrecht kann deshalb auch dort Verbote formulieren, wo das allgemeine Strafrecht kein Verbot kennt, und vermag u.U. sogar standesrechtliche Sanktionen festzusetzen, deren Wirkung für die davon Betroffenen einer Strafe gleichkommt.[206]
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Problematisch wird das Auseinanderfallen von Standesrecht und Strafrecht dann, wenn damit spürbare Wertungswidersprüche verbunden sind. Dies ist etwa seit dem Jahr 2011 im Hinblick auf den ärztlich assistierten Suizid der Fall. Im Strafrecht ist die Beihilfe eines Arztes zum Suizid eines anderen, z.B. eines Patienten, schon im Hinblick auf den Grundsatz der limitierten Akzessorietät straflos.[207] Dagegen enthält die Musterberufsordnung der Ärzte seit 2011 in § 16 S. 3 eine Klausel, die die Hilfe zur Selbsttötung verbietet. Eine ärztliche Suizidassistenz ist also nicht strafbar (und nach Maßgabe der herrschenden Sozialmoral auch nicht strafwürdig); dieser Wertung folgt aber nur ein Teil der Landesberufsordnungen, während das ärztliche Standesrecht anderer Landesärztekammern die ärztliche Suizidassistenz untersagt.[208]
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Die Situation wird noch dadurch kompliziert, dass nach wohl überwiegender Meinung das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) auch im Arzt-Patienten-Verhältnis zu beachten ist und einem ausnahmslosen Verbot der Suizidassistenz entgegensteht.[209] Für Ärzte und Patienten ist diese nur durch die Zusammenschau mehrerer Regelungsebenen erfassbare Rechtslage kaum mehr verständlich. Schon wegen der zentralen Bedeutung des Lebensschutzes für eine an humanistischen Grundsätzen orientierte Rechtsordnung sind Wertungswidersprüche auf diesem Gebiet auch rechtsstaatlich problematisch. Gerade beim Schutz so zentraler Rechtsgüter wie dem Leben sollten Grundrechte (hier: die allgemeine Handlungsfreiheit und die Gewissensfreiheit), das Strafrecht, die Sozialmoral und die einzelnen Standesrechte konform gehen.
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › I. Sorgfaltsanforderungen, Technische Normen und Technikstandards
I. Sorgfaltsanforderungen, Technische Normen
und Technikstandards
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Zahlreiche Normen der Sitte und der Moral verbieten das „grundlose“ Verletzen fremder Interessen. So gilt es als unmoralisch, zu stehlen, andere zu