Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser страница 19
I. Europäisierung und Globalisierung
111
Eine erste Herausforderung liegt in der Europäisierung und Globalisierung des Rechts, die mehr und mehr auch das Strafrecht berühren. Unter der „Europäisierung“ des deutschen Strafrechts soll hier das Phänomen verstanden werden, dass immer mehr Elemente des nationalen Strafrechts von Entscheidungen europäischer Normsetzer, sei es das europäische Parlament oder die Kommission, geprägt werden.[226] Teilweise gehen die Vorgaben so weit, dass dem deutschen Gesetzgeber kaum noch Handlungsspielraum verbleibt. Die deutsche Strafrechtswissenschaft steht diesen Tendenzen zu Recht überwiegend skeptisch gegenüber.[227] Kritisiert wird zum einen die schwache demokratische Legitimation vieler derartiger Einflussnahmen, verbunden mit einer deutlich punitiven Tendenz, und die Missachtung zentraler rechtsstaatlicher Grundsätze, etwa des Ultima-Ratio-Gedankens.
112
Von der Europäisierung des deutschen Strafrechts zu unterscheiden ist seine Internationalisierung, also die Öffnung gegenüber Einflüssen aus anderen Ländern und Kulturbereichen.[228] Derartige Einflüsse sind grundsätzlich positiv zu bewerten; soweit sie von fremden Strafrechtsordnungen ausgehen, sind sie Gegenstand des Strafrechtsvergleichs. Es existieren jedoch auch grenzüberschreitende Einflüsse, die Bedenken erregen müssen. Vor allem über das Internet ist der Einzelne heute mit einer unüberschaubar großen Menge von Inhalten konfrontiert, von denen zumindest einige unseren kulturellen Standards und Moralvorstellungen, und teilweise auch den Strafnormen des Staates zuwiderlaufen. Das Internet kennt keine nationalen Grenzen. Derartige Erscheinungen geben den alten Debatten über die Notwendigkeit grenzüberschreitender rechtlicher Standards[229] bis hin zu einem „Weltrecht“[230] bzw. „Weltstrafrecht“[231] neuen Auftrieb.
113
Bei der Anwendung des eigenen Strafrechts auf ausländische Sachverhalte ist Zurückhaltung geboten; Deutschland würde sich etwa mit der Rolle eines „Internet-Weltpolizisten“ übernehmen. Deshalb sollte auch das internationale Strafrecht (verstanden als nationales Rechtsanwendungsrecht) nicht über Gebühr ausgedehnt werden, etwa über die Umdeutung abstrakter Gefährdungsdelikte in Erfolgsdelikte.[232] Die Probleme, die durch den Zusammenprall unterschiedlicher kultureller Standards und Moralvorstellungen über das Internet entstehen, können nur zu einem geringen Teil mit den Mitteln des Strafrechts bewältigt werden.
II. Kulturelle Pluralisierung und neue Interkulturalität
114
Parallel zur Globalisierung existiert innerhalb der deutschen Gesellschaft ein Trend zur kulturellen Pluralisierung. Ursachen hierfür sind einerseits die Migration nach Deutschland seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, andererseits der starke Bedeutungsverlust des traditionell die Kultur prägenden Christentums.[233] Die ehedem weitgehend homogene Sozialmoral[234] hat sich seit den 60er Jahren teilweise aufgelöst und einer kulturell heterogenen Gesellschaft Platz gemacht. Ganz ähnliche Prozesse haben sich auch in anderen westlichen Industrienationen vollzogen, etwa den USA, England, Kanada und Frankreich.[235]
115
Damit stellt sich die Frage, ob die überwiegend vor dem Hintergrund vergangener gesellschaftlicher Verhältnisse entstandene Strafrechtsordnung Deutschlands den neuen Verhältnissen angepasst werden muss.[236] Vor allem die Auseinandersetzung um die religiös motivierte Genitalbeschneidung bei Säuglingen[237] hat die Schwierigkeiten offenbart, die sich beim Aufeinandertreffen von religiös gestützten Moralvorstellungen und den ihnen entsprechenden Traditionen mit dem modernen säkularen Strafrecht ergeben. Ältere Auseinandersetzungen dieser Art bezogen sich etwa auf die Durchführung von Exorzismen,[238] das Schächten von Tieren[239] und auf als unangemessen oder gar verwerflich empfundene Kritik an religiösen Glaubensinhalten (Blasphemie).[240]
116
Die bislang herrschende Meinung in der Strafrechtswissenschaft geht zu Recht davon aus, dass zur Lösung der damit angesprochenen Probleme tiefergreifende Änderungen des deutschen Strafrechts nicht erforderlich sind und rechtspolitisch auch nicht sinnvoll wären.[241] Dies bedeutet, dass der im Strafrecht festgeschriebene Rechtsgüterschutz auch gegenüber Positionen durchgesetzt wird, die sich auf religiöse Einstellungen oder auf eine bestimmte kulturelle Praxis berufen. Ein Strafrecht, welches sich am Grundgesetz, insbesondere am Rechtsstaatsprinzip, an den Grundrechten und an der Menschenwürde orientiert,[242] muss rechtsgutsverletzende Praktiken auch dann erfassen können, wenn diese aus Sicht der Gläubigen durch Religion oder durch altehrwürdige Traditionen motiviert werden.[243]
117
Andererseits ist zu bedenken, dass die Religionsfreiheit grundrechtlich geschützt wird (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und das Grundgesetz den Religionen nicht lediglich neutral-tolerierend, sondern grundsätzlich positiv-fördernd gegenübersteht.[244] Zudem sprechen in der modernen, kulturell stark pluralisierten Gesellschaft starke rechtspolitische Gründe dafür, religiöse und fremdkulturelle Einstellungen und Praktiken, auch wenn sie von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt werden, zu tolerieren und wenn möglich sogar als gleichberechtigte Ausprägungen kulturellen Lebens zu akzeptieren. Eine angemessene Grenzziehung zu finden ist überaus schwierig und gerade deswegen eine der wichtigsten rechtspolitischen Aufgaben der Zukunft. Die Debatte um das Verhältnis von Strafrecht und neuer Interkulturalität ist noch lange nicht abgeschlossen.[245]
III. Technische Entwicklung
118
Eine weitere große Herausforderung für das Recht, und damit auch das Strafrecht, stellt die immer weiter fortschreitende technische Entwicklung dar, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, damit aber auch Regelungsprobleme aufwirft, sofern man nicht der Prämisse folgen möchte, alles, was technisch möglich ist, müsse auch zulässig sein. Kennzeichnend für viele dieser Regelungsprobleme ist, dass die überkommene Sozialmoral darauf bislang keine überzeugende Antwort zu geben vermag. Dies gilt für neue Möglichkeiten der Medizin, etwa im Zusammenhang mit der Verlängerung menschlichen Lebens, ebenso wie für moderne Formen der Humanbiotechnologie (Klonen menschlicher Zellen, Stammzellforschung, usw.). Besonders schwierig zu beantworten sind derartige Regelungsfragen dann, wenn infolge der kulturellen Pluralisierung unterschiedliche Regelungsvorstellungen aufeinandertreffen und religiöse mit säkularen, liberale mit weniger liberalen Regelungsansätzen konkurrieren.
119
Es existieren aber auch durch technische Entwicklungen hervorgerufene Regelungsprobleme, bei denen (bisher?) keine weltanschaulichen Gegensätze aufbrechen. Ein Beispiel hierfür sind die Fragen, die sich bei der strafrechtlichen Bewältigung neuer Formen sozialschädlichen Verhaltens im Internet oder Problemen der Anwendung überkommener strafrechtlicher Zurechnungsmodelle auf den teilautomatisierten Straßenverkehr stellen. Die Strafrechtswissenschaft steht hier vor einer dreifachen Aufgabe: 1) der Beratung rechtanwendender Instanzen bei der Bewertung der neuen Techniken und ihrer Subsumtion unter den gegebenen Normenbestand, 2) der Beratung der gesetzgebenden Instanzen im Hinblick auf die erfolgversprechendsten Formen des Rechtsgüterschutzes und 3) der Beratung der Techniker (Ingenieure, Informatiker) im Hinblick darauf, wie (straf-)rechtliche Haftungsrisiken vermieden werden können.[246] Letzteres kann als eine Form der Sicherung juristischer „Compliance“ verstanden werden.[247]
120
Die Ansicht, Strafrecht habe sich auf den Schutz eines Kernbestands von Rechtsgütern zu beschränken und könne deshalb zur juristischen Einhegung der neuen Risiken nichts beitragen, überzeugt nicht.[248] Um die durch die technische Entwicklung entstandenen Regelungsfragen angemessen lösen zu