Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Strafrecht entstammt meist den gleichen sozialen Normen und Wertungen wie die Sozialmoral einer Gesellschaft.[210] Strafnormen stellen deshalb in der Regel explizit gemachte, durchstrukturierte und rationalisierte Formen von Verbotstatbeständen der Sozialmoral dar. Auch die Strafrechtsdogmatik, also die Analyse der gegebenen Strafrechtsnormen und -praxis mit dem Ziel konsistenter Begriffsverwendung und Systematisierung, geht häufig von den alltagspraktischen Begriffen, Normen und Wertungen aus, macht diese explizit und rationalisiert sie, indem die Alltagspraxis von Widersprüchen befreit und in ein System gebracht wird.[211] Man könnte dies als Prozess „rationaler Rekonstruktion“ bezeichnen. Beispiele derartiger „Rekonstruktionen“ sind etwa die strafrechtswissenschaftlichen Präzisierungen von Alltagskonzepten wie „Handlung“, „Kausalität“, „Notwehr“ oder „Provokation“.
I. Ungeschriebene Sorgfaltsanforderungen
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Dieser „Umsetzungsprozess“ aus der allgemeinen Sozialmoral, aber auch aus bereichsspezifischen Sondermoralen in das Recht findet auch bei der Entscheidung über das Vorliegen von Fahrlässigkeit statt. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, § 276 BGB. Trotz der außerordentlichen praktischen Bedeutung der Fahrlässigkeitsnormen für das Strafrecht (und ebenso für das Zivilrecht) sind weder die Grundlagen noch die Details der Fahrlässigkeitsverantwortung zufriedenstellend geklärt.[212]
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Die Rechtspraxis geht (hierin wieder eine verbreitete Alltagspraxis aufgreifend und explizierend) häufig von Maßfiguren aus und fragt, wie sich ein „einsichtiger und besonnener Mensch“ in der konkreten Lage des Handelnden verhalten hätte.[213] Derartige Formeln stehen stets unter Zirkularitätsverdacht, weil allzu leicht eine eigene Entscheidung vorweggenommen und aus der heterogenen sozialen Wirklichkeit diejenigen Praktiken als Maßstab herausgegriffen werden, die dem eigenen Vorurteil entsprechen.
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Eine allseits überzeugende Methode zur inhaltlichen Bestimmung des Handlungsunwerts bei Fahrlässigkeitsdelikten steht noch aus.[214] Weitgehend unbestritten ist allenfalls, dass Sorgfaltspflichten dann entstehen, wenn ein Rechtsgut gefährdet erscheint und ein Schadenseintritt durch entsprechend „vorsichtiges“ Verhalten des in Frage stehenden Akteurs vermieden werden kann, dass Sorgfaltspflichten mit der Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts und der Wahrscheinlichkeit seiner Verletzung ansteigen und durch Gesichtspunkte wie dem Vertrauensgrundsatz[215] und dem Gedanken des erlaubten Risikos[216] begrenzt werden. Es handelt sich um eine Normsetzung bzw. Normkonkretisierung mit starken rechtsschöpferischen Elementen, die in enger Anlehnung an die Sozialmoral vollzogen wird.
II. Technische Normen
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In vielen Bereichen haben sich die in Einzelfällen postulierten Sorgfaltsnormen zu gewissen Standards verfestigt. Dies gilt etwa für die Regeln der ärztlichen Kunst.[217] Noch einen Schritt weiter gehen sog. technische Normen. Darunter versteht man private, oft von wirtschaftsnahen Organisationen verabschiedete einheitliche Regelungen, etwa zu technischen Verfahren, Qualitätsstandards, Sicherheit oder zu einer standardisierten Vertragsgestaltung.[218]
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Von technischen Normen zu unterscheiden sind technische Klauseln, also gesetzliche oder vertragliche Verweise auf einen bestimmten Stand der technisch-wissenschaftlichen Erkenntnis. Es lassen sich (mindestens) drei Typen von Technikklauseln unterscheiden: die „allgemein anerkannten Regeln der Technik“, der „Stand der Technik“ und der „Stand von Wissenschaft und Technik“:[219]
1. | Allgemein „anerkannte Regeln der Technik“ sind Regeln, die sich aufgrund fortdauernder praktischer Erfahrung bewährt haben und in der Wissenschaft als theoretisch richtig (vorläufig) anerkannt sind[220] (vgl. etwa § 13 Abs. 1 S. 2 VOB/B). |
2. | Der „Stand der Technik“ (§ 3 Abs. 6 BImSchG) beschreibt technische Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt, basierend auf gesicherten Erkenntnissen von Wissenschaft und Technik. Im Gegensatz zu allgemein anerkannten Regeln der Technik, bei denen technische Verfahrensweisen bereits Eingang in die betriebliche Praxis gefunden und sich dort bewährt haben müssen, legt der Terminus „Stand der Technik“ geringere Anforderungen zugrunde.[221] |
3. | Die Formulierung „Stand von Wissenschaft und Technik“ verweist auf neueste, realisierbar erscheinende Ergebnisse wissenschaftlicher und technischer Forschung.[222] Diese Formel wird vornehmlich in atomrechtlichen Vorschriften verwendet, vgl. etwa § 7 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AtomG. |
4. | Auf EU-Gemeinschaftsebene findet sich auch der Begriff der „besten verfügbaren Technik“. Er entspricht in etwa dem in Deutschland verwendeten Begriff des „Standes der Technik“. Der Begriff wurde durch das Gemeinschaftsrecht der europäischen Union, vor allem durch die sog. IVU-Richtlinie,[223] in das nationale Recht der Mitgliedstaaten eingeführt.[224] |
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Eine Verletzung technischer Normen stellt ein starkes Indiz für das Vorliegen eines Sorgfaltsverstoßes i.S.d. Strafrechts dar, ist damit jedoch nicht gleichzusetzen. Es ist denkbar, dass in einer bestimmten Situation (z.B. bei der Herstellung eines Produkts) alle geltenden technischen Vorschriften eingehalten werden, dennoch aber ein Sorgfaltspflichtverstoß anzunehmen ist.[225] Gerade bei neueren technischen Normen wird man allerdings im Regelfall von einem Gleichlauf zwischen technischer Norm und allgemeiner Sorgfaltspflicht ausgehen können.
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › J. Strafrecht vor neuen Herausforderungen
J. Strafrecht vor neuen Herausforderungen
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Das Strafrecht sieht sich seit einiger Zeit neuen Herausforderungen ausgesetzt. Dazu gehören zum einen die starke Zunahme europäischer Vorgaben, zum anderen aber auch Globalisierungsphänomene wie Migration und innerstaatliche kulturelle Pluralisierung, die dazu führen, dass deutsche Strafvorschriften mit Moral– und Rechtsnormen anderer Staaten und Kulturen in Konflikt geraten. Außerdem führt der technische Fortschritt dazu, dass Sachverhalte zu bewerten sind, für die klare moralische Vorgaben (noch) nicht existieren. Infolge der Globalisierung gibt es, überspitzt formuliert, zu viele Moralangebote, zur Bewältigung des technischen Fortschritts zu wenige. Das überkommene deutsche Strafrecht und mit ihm die deutsche Strafrechtswissenschaft