Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Um die inhaltliche Bestimmung von „Menschenwürde“ i.S.v. Art. 1 GG wird seit langem gerungen.[147] Lange Zeit fand die „Objektformel“ Günter Dürigs viel Zuspruch, wonach die Menschenwürde dann beeinträchtigt sein soll, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.[148] In den letzten Jahren mehren sich jedoch die Stimmen, die die Leistungsfähigkeit dieser Formel gerade zur Lösung problematischer Fälle in Zweifel ziehen.[149] Auch der Versuch, Menschenwürdeverletzungen über den Gesichtspunkt einer „Instrumentalisierung“ zu definieren, überzeugt jenseits eines ohnehin unstrittigen Kernbereichs von Menschenwürdeverstößen kaum.[150]
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Versucht man, den Begriff „Menschenwürde“ genauer zu fassen, so wird deutlich, dass sie sich als ein Ensemble grundlegender subjektiver Rechte deuten lässt, deren Zweck es ist, die Autonomie bzw. Autonomiefähigkeit des Individuums zu schützen. Dazu gehören das Recht auf ein materielles Existenzminimum, das Recht auf autonome Selbstentfaltung (also minimale Freiheitsrechte), ferner ein Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen (gegen Folter), ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, ein Recht auf geistig-seelische Integrität, ein Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit und ein Recht auf minimale Achtung.[151] Der Anwendungsbereich dieser Rechte ist durchaus eng zu verstehen, um die Anwendung der Menschenwürde in der Praxis nicht ad absurdum zu führen.[152]
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Nach überwiegender Ansicht kann die Menschenwürde als Basis der anderen Grundrechte verstanden werden: sie umfasst den „Kerngehalt“ der anderen Grundrechte. Darüber hinaus begründet die Menschenwürde die Verfassungsordnung insgesamt, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Neben dieser Begründungsfunktion wird die Menschenwürde auch als Leitwert bei der Auslegung von Gesetzen, einschließlich der Strafgesetze, verwendet und dient als Orientierungsmaßstab der Gesetzgebung. Man kann insofern von der Orientierungsfunktion der Menschenwürde sprechen. Eine dritte Funktion der Menschenwürde liegt in ihrer Rolle als kritischer Maßstab, an welchem Rechtsordnung und Rechtspolitik gemessen werden können (kritische Funktion der Menschenwürde). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes die Humanorientierung der Rechtsordnung sichert und damit ein wesentliches Element der Rechtsphilosophie der Aufklärung aufgreift, indem sie die Ausrichtung des Rechts auf den konkreten Menschen und seine basalen Bedürfnisse und Nöte als Leitwert der bundesdeutschen Rechtsordnung, einschließlich der Strafrechtsordnung, festschreibt.[153]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › F. Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik
F. Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik
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Der Unterscheidung zwischen Recht und Moral entspricht der Unterschied zwischen Rechtswissenschaft als der wissenschaftlichen Untersuchung des Rechts und der Ethik als der Wissenschaft von der Moral.
I. Die (Straf-)Rechtswissenschaft und das Problem der Wertfreiheit
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Die Rechtswissenschaft ist nur schwer auf einen aussagekräftigen einheitlichen Begriff zu bringen, weil sie sehr unterschiedliche Teildisziplinen in sich fasst. Deutsche Rechtswissenschaftler und Juristen anderer Länder, die von der deutschen Rechtswissenschaft geprägt wurden,[154] verstehen traditioneller Weise die Rechtsdogmatik, also die begriffliche, in systematischer Absicht betriebene Analyse der Rechtsnormen, als Kern der Rechtswissenschaft. Ein Kennzeichen der Rechtsdogmatik ist das Bestreben, einzelne Rechtsgebiete, aber auch einzelne Rechtsprobleme in systematischer Form darzustellen und zu analysieren. Der Stand der in der deutschen Strafrechtswissenschaft heute erreichten dogmatischen Durchdringung des materiellen Strafrechts ist außerordentlich hoch, so hoch, dass gelegentlich sogar an der Sinnhaftigkeit einer noch weiter ausdifferenzierten Dogmatik gezweifelt werden darf. Es lässt sich jedoch kaum in Frage stellen, dass die internationale Anerkennung der deutschen Strafrechtswissenschaft in erster Linie auf ihren dogmatischen Leistungen, vor allem im Allgemeinen Teil des Strafrechts, beruht.[155]
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Kaum weniger entwickelt ist die wissenschaftliche Durchdringung im Strafprozessrecht,[156] dessen internationale Rezeption dennoch bislang weit hinter der des materiellen Strafrechts im Allgemeinen Teil zurückbleibt. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass der Gesetzgeber bislang nicht die Kraft zu einer umfassenden Reform des über weite Strecken einem Flickenteppich ähnelnden Strafprozessrechts aufgebracht hat. Hinzu tritt die Überforderung des überkommenen Strafverfahrensrechtes durch die Hypertrophie des materiellen Strafrechts.[157]
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Zur Dogmatik des Straf- und Strafverfahrensrechts als rechtswissenschaftliche Kerndisziplinen tritt die Kriminologie als empirische Disziplin hinzu; erst zusammen bilden sie die „gesamte Strafrechtswissenschaft“ (s.o. Rn. 3). Inhalt der Kriminologie ist die Erforschung von Straftaten, ihrer Ursachen und möglicher Präventionsstrategien. Kriminologie wird heute überwiegend als Kriminalsoziologie verstanden; insofern handelt es sich um ein Teilgebiet der allgemeinen Soziologie.[158] Zur Kriminologie gehören außerdem die Kriminalpsychologie und die Kriminalbiologie. Nicht mehr zur eigentlichen Strafrechtswissenschaft gehören Grundlagenfächer wie die (Straf-)Rechtsgeschichte,[159] die (Straf-)Rechtsphilosophie[160] und die (Straf-)Rechtstheorie.[161]
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Die Frage nach einer möglichen „Wertfreiheit“ der Wissenschaft gehört zu den großen Themen der Wissenschaftslehre, vor allem in den Sozialwissenschaften.[162] In der Rechtstheorie bzw. Rechtsphilosophie ist das Thema – trotz seiner überragenden Bedeutung gerade für die Rechtswissenschaft – bislang kaum aufgegriffen worden, obwohl gerade die in der Jurisprudenz allgemein akzeptierte Unterscheidung zwischen einer Betrachtung „de lege lata“ und „de lege ferenda“ den Zugang zur Problematik erleichtert. Es spricht sogar einiges dafür, dass Max Weber, der Urheber des Wertfreiheitspostulates, die entscheidenden Anregungen aus seinem Kontakt zur Jurisprudenz erhalten hat.[163]
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Das Wertfreiheitsproblem wurde immer wieder mit Fragen in Verbindung gebracht, die weit über das ursprüngliche Anliegen von Weber hinausgingen.[164] Weber formuliert im Kern ein methodologisches Postulat, nämlich die Forderung, Aussagen über die Tatsachen der eigenen Disziplin einerseits, persönliche Werturteile und Meinungsäußerungen andererseits strikt voneinander zu trennen. Es handelt sich, wie schon Max Weber betonte, letztlich um eine „höchst triviale Forderung: dass der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (…) und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen (…) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinne: „wertende“ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt.“[165]
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Um das