Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser страница 12
![Handbuch des Strafrechts - Robert Esser Handbuch des Strafrechts - Robert Esser](/cover_pre1171376.jpg)
44
Ähnlich formuliert Nicolai Hartmann:
„Die eigentliche Seinsweise der Werte ist offenkundig die eines idealen Ansichseins. Sie sind ursprünglich Gebilde einer ethisch idealen Sphäre, eines Reiches mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung. Diese Sphäre schließt sich der theoretisch idealen Sphäre, der logischen und mathematischen Seinssphäre, sowie derjenigen der reinen Wesenheiten überhaupt, organisch an. Sie ist deren Fortsetzung.“[112]
45
Klar grenzt sich Hartmann gegenüber der Vorstellung ab, Werte seien nur subjektive Gefühlseinstellungen bzw. Ausdruck solcher Einstellungen:
„Der Gedanke des Ansichseins … erhebt sie über alle solche Zweifel. Er selbst wurzelt in der Tatsache, dass es so wenig möglich ist ein Wertgefühl willkürlich hervorzurufen, wie eine mathematische Einsicht willkürlich zu konstruieren. In beiden Fällen ist es ein objektiv geschautes Seiendes, das sich darbietet, welchem das Gefühl, das Schauen, der Gedanke nur folgen, aber nichts anhaben können. Man kann als wertvoll nur empfinden, was an sich wertvoll ist. Man kann freilich solchen Empfindens auch unfähig sein; aber wenn man seiner überhaupt fähig ist, so kann man mit ihm den Wert nur so empfinden, wie er an sich ist, nicht aber wie er nicht ist. Das Wertgefühl ist nicht weniger objektiv als die mathematische Einsicht.“[113]
46
Wer nicht in der Lage ist, einen objektiven Wert zu „schauen“, ist für Hartmann „wertblind“.[114] Wertblindheit liegt ihm zufolge der Ansicht zugrunde, Werte seien einem historischen Wandel unterworfen:
„Es gibt auch Unbildung und Bildung des Wertgefühls, Begabung und Unbegabtheit für Wertschau. Es gibt ein individuelles Reifen des Wertorgans im Einzelmenschen, und es gibt ein geschichtliches Reifen des Wertorgans in der Menschheit. Ob das letztere immer Fortschritt bedeute, muss dahingestellt bleiben; vielleicht bringt es die Enge dieses Wertbewusstseins mit sich, dass es auf der anderen Seite immer wieder verliert, was es auf der einen gewinnt. Vielleicht gibt es auch eine Erweiterung der Enge selbst. Tatsache aber ist, dass wir immer nur begrenzte Ausschnitte aus dem Wertreich übersehen, für seinen übrigen Umfang aber wertblind sind. Das ist der Grund, warum das geschichtliche Wandern des Wertblickes mit seinem Lichtkreise auf der Ebene der an sich seienden Werte – welches sich in der Vielheit und der Vergänglichkeit der ‚Moralen‘ spiegelt – so überaus lehrreich für die philosophische Wertforschung ist. … Nicht Werte, wohl aber der Wertblick ist variabel. Aber er ist es eben deswegen, weil die Werte selbst und ihre ideale Ordnung seine Bewegungen nicht mitmachen, weil sie gegenständlich und ansichseiend sind.[115]
II. Wertsubjektivismus
47
Nach der (hier zugrunde gelegten) Gegenposition sind Werte von menschlichen Wertungen, also einer bestimmten Form menschlichen Verhaltens, abhängig und insofern subjektiv. Nach subjektivem Verständnis entstehen Werte durch menschliche Wertung. Menschen werten unablässig, indem sie bestimmte Sachverhalte, Gegenstände, Personen oder Handlungen gegenüber anderen vorziehen und in diesem Sinne „positiv bewerten“: Wer im Lokal einen guten Rotwein gegenüber Weißwein bevorzugt, hat eine Wertung getroffen. Wertungen müssen freilich nicht stets positiv sein, sondern können auch negativ ausfallen, etwa dann, wenn wir einen Menschen gegenüber einem anderen vorziehen, weil wir letzteren als „unhöflich“ oder „unangenehm“ bewerten.
48
Wertungen sind nicht an bestimmte Sprachformen gebunden; sie können durch Interjektionen wie „Pfui“ oder „Bravo“ und auch in der Gestik oder Mimik ebenso ausgedrückt werden wie durch Worte („gut“, „schlecht“, „wunderbar“, „hässlich“ oder „entsetzlich“).[116] Wertungen lassen sich auch durch vollständige Sätze ausdrücken, etwa in der Form „Dieses Bild ist wunderschön“ oder „Die Handlung von A war schlecht“. In beiden Sätzen tritt die Wertung in Form eines Urteils auf, gleicht also im Hinblick auf ihre Oberflächengrammatik den Tatsachenurteilen bzw. Tatsachenaussagen.[117]
49
Wie die Beispiele zeigen, spielen Wertungen in vielen Bereichen des menschlichen Lebens eine Rolle. Besonders wichtig sind Wertungen in der Moral, deren Grundcode „gut“ und „böse“ ist, und der Ästhetik, die nach dem basalen Code „schön“ und“ hässlich“ bewertet. Akteure der Wertung sind menschliche Individuen, die dabei allerdings nicht völlig frei und unberechenbar handeln, sondern durch ihre Kultur und persönliche Sozialisation geprägt sind. Individuen werten also in aller Regel nicht willkürlich oder beliebig, sondern folgen einem Muster, welches einen wesentlichen Bestandteil des Charakters eines Menschen bildet.[118]
50
Das dem Wertungsverhalten von Menschen zugrunde liegende Muster wird oft von anderen Menschen geteilt. Nur so ist es zu erklären, dass sich die Wertungen so vieler Menschen stark ähneln. Es gibt ein gleichförmiges gruppenspezifisches Wertverhalten (etwa wenn innerhalb eines Fußballklubs bestimmte Spieler besonders positiv bewertet werden), aber auch gemeinsame Wertungen, die bestimmte Alterskohorten, politische Parteien oder religiöse Gruppen auszeichnen. Selbst auf nationaler Ebene finden sich häufig charakteristische Wertungen, wenngleich z.B. die Rede von einem „deutschen“ oder „französischen“ Nationalcharakter nicht erst in Zeiten der Globalisierung problematisch geworden ist.[119]
51
Vergrößert man den Blickwinkel noch weiter, so stößt man auf Wertungsähnlichkeiten, aber auch auf Wertungsunterschiede ganzer Kulturen bzw. Kulturräume. So wird etwa die Rolle des Individuums in Europa und den USA anders bewertet als in Ostasien. Weitere Beispiele für offenbar kulturspezifische Wertungen sind die Vorstellungen über persönliche Verantwortung, Freiheit (unter Einschluss der Vertragsfreiheit), den Wert des Lebens, Privatheit und Eigentum.[120]
52
Besonders interessant sind universelle Wertungen, d.h. Wertungen, die bei allen Menschen in mehr oder weniger ähnlicher Form auftreten. Beispiele hierfür sind etwa die negative Bewertung von Hunger oder Schmerz, von willkürlichen Körperverletzungen oder von Tötungshandlungen. Es spricht viel dafür, dass sich derartige universell auffindbare Wertungen auf biologische Grundbedürfnisse (nach Nahrung, Wohlbefinden usw.) zurückführen lassen. Sie sind also sozusagen in der Natur des Menschen begründet.[121] Viele dieser universellen Wertungen scheinen negativer Natur zu sein, d.h. Menschen sind sich jedenfalls darin einig, was sie ablehnen. Universell auftretende Wertungen können eine Basis für das Konzept universeller Werte bilden.[122]
53
Werte sind das Ergebnis von Wertungen; sie entstehen aus menschlichen Wertungen im Wege der Abstraktion. Die Rede von „Werten“ setzt also grundsätzlich theoretische Anstrengungen voraus. Werte bezeichnen das, was in ähnlichen Wertungssituationen die positive oder negative Wertung begründet. Wer etwa nachbarschaftliche Hilfe positiv bewertet, für den ist Nachbarschaftshilfe ein (positiver) Wert. Wird die Wertung von vielen Menschen geteilt, so handelt es sich nicht nur um einen individuellen, sondern