Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Zur Beantwortung der ersten Frage kann an das bereits oben zu Wertungen und Werten Ausgeführte (Rn. 53 f.) angeknüpft werden: Werturteile sind Wertungen in der Form von Urteilen (nach heutiger Terminologie: Aussagen), also in der Oberflächengrammatik einer Tatsachenaussage. Sie sind nicht empirisch prüfbar; weder die Prädikate „wahr“ und „falsch“ noch die übliche Aussagenlogik sind auf sie anwendbar.
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In Bezug auf die zweite Frage nach der Wertbasis der Wissenschaft – Albert spricht auch von der „existentiellen Basis“ – fällt die Antwort ebenfalls nicht schwer. Unter „Wertbasis“ einer Wissenschaft versteht Albert u.a. Zielsetzungen, Wahrheitsideale, Kriterien der Intersubjektivität (Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Bewährung, Kriterien der Akzeptanz), Regeln eines kritischen Diskurses und Erkenntnisprozesses, Auswahl der relevanten Probleme. Die Bereitschaft, bestimmten Standards dieser Art zu folgen, beruht auf einer wertenden Entscheidung. Es liegt auf der Hand, dass schon der Entschluss, sich mit Rechtswissenschaft zu beschäftigen, eine Wertung impliziert. Des Weiteren sind die Definitionen rechtlicher Grundbegriffe, wie Handlung, Kausalität usw., von menschlichen Wertungen abhängig.[167] Wertungen, die die Wertbasis betreffen, müssen aber nicht in den Aussagenzusammenhang einer Wissenschaft eingehen.
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Die Antwort auf die dritte Frage nach dem Vorkommen von Werten bzw. Wertungen im Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft lässt sich wie folgt formulieren: jeder Jurist, auch der an Universitäten tätige, wird sich regelmäßig mit Wertungen und Werten beschäftigen müssen. Nicht selten ist die Berücksichtigung von Wertungen und Werten sogar gesetzlich vorgeschrieben, etwa in § 242 BGB oder § 228 StGB. Auch die gesetzliche Fassung des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) fordert den Rechtsanwender (und auch den Rechtswissenschaftler, soweit er rechtsanwendend tätig wird) zur Berücksichtigung außerjuristischer Wertungen und Werte auf.
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Dass sich Werte und Wertungen im Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft befinden, bedeutet jedoch noch nicht, dass die Rechtswissenschaft selbst wertend tätig sein muss. Dieses vierte Teilproblem der Werturteilsproblematik wirft besondere Schwierigkeiten auf. Soweit es die Rechtswissenschaft mit Normanalyse, der Herausarbeitung von Bedeutungsvarianten und mit Folgenabschätzung zu tun hat, kann sie wertfrei betrieben werden. Dagegen ist die Rechtsanwendung selbst, also die Entscheidung zwischen Deutungsvarianten sowie die Anwendung dieser Varianten auf einen konkreten Sachverhalt, von Eigenwertungen abhängig. Eine weit verstandene Rechtswissenschaft, die die Rechtsanwendung integriert, ist deshalb nicht ohne Weiteres mit dem Wertfreiheitpostulat in Einklang zu bringen.[168]
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Ein Ausweg besteht darin, zumindest begrifflich zwischen Rechtsdogmatik im engeren Sinne und der Rechtsanwendung zu unterscheiden. Rechtsdogmatik kann wertfrei betrieben werden, während die Jurisprudenz, verstanden als Rechtsdogmatik in Kombination mit Rechtsanwendung, nicht wertfrei erfolgen kann. Diese Differenzierung[169] besitzt eher theoretische denn praktische Bedeutung. Ein Rechtswissenschaftler, der wie allgemein üblich Rechtsdogmatik mit Rechtsanwendung verbinden möchte, sollte aber jedenfalls wertbewusst[170] vorgehen, sich der relevanten Unterschiede also bewusst bleiben.
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Etwas anderes gilt bei Themen und in Situationen, in denen die Unterscheidung zwischen den Tatsachen der einschlägigen Disziplin und eigenen politischen oder moralischen Wertungen von besonderer Bedeutung ist, etwa in einem wissenschaftlichen Gutachten zu einer politisch strittigen Rechtsfrage oder bei einem Vortrag vor juristisch nicht besonders geschulten Zuhörern (Problem der Kathederwertung). Um dem Postulat der Wertfreiheit Genüge zu tun, sollten Wissenschaftler in derartigen Situationen deutlich machen, ob sie rein dogmatisch argumentieren oder ob sie auch Eigenwertungen moralischer oder politischer Art einfließen lassen. Es ist ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit, sein Publikum über den Charakter der eigenen Äußerungen nicht zu täuschen.[171]
II. Ethik
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Unter Ethik soll hier mit dem wohl überwiegenden Sprachgebrauch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Moral verstanden werden[172] (nach einem anderen, weniger spezifischen Sprachgebrauch sind „Ethik“ und „Moral“ Synonyme). Die älteste bekannte Ethik ist die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles (384–322 v.Z.), worin mittels einer Analyse von Konzepten wie „Handlung“, „Tugend“ und „Glückseligkeit“ eine Theorie des guten Lebens formuliert wird.[173]
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Ethik beschäftigt sich, ähnlich wie die Strafrechtsdogmatik, mit der begrifflichen Analyse moralischer Begriffe, mehr aber noch mit der Analyse moralischer Argumente (für oder gegen bestimmte Positionen). Hinzu tritt vor allem in traditionell ausgerichteten Ethiken der Versuch, bestimmte moralische Positionen zu begründen. In dieser Begriffsverwendung ist „Ethik“ gleichbedeutend mit „Moralphilosophie“. Gelegentlich wird auch von einer „Letztbegründung“ gesprochen: Es wird versucht, mit den Methoden der Wissenschaft zu zeigen, dass bestimmte moralische Positionen unzweifelhaft „richtig“ sind.
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Seit annähernd 2500 Jahren ist die Moralphilosophie auf der Suche nach einem festen Fundament der Moral.[174] Die wohl ältesten Vorschläge, Moral absolut zu begründen, rekurrierten auf den Willen eines Gottes oder einer Göttin, man denke nur an den vom Berg Sinai herabsteigenden Moses, der seinem Volk die in Stein gemeißelten Gebote seines Gottes bringt. Auf diesen theonomen Ansatz folgte der erste und gleichzeitig folgenreichste philosophische Versuch einer Letztbegründung von Moral, die platonische Ideenlehre.[175] Zu nennen sind ferner das christliche und später das neuzeitliche Naturrecht, das Vernunftrecht, der Utilitarismus, der Rekurs auf Logik und andere formale Verfahren (z.B. der kategorische Imperativ Kants), die Geschichtsphilosophie und die Sprachreflexion (Diskursphilosophie bzw. Diskursethik).[176] In der Gegenwart verbreitet sind auch Versuche, Begriffe als Moralquelle zu verwenden und etwa den strafrechtlichen Schutz von Embryonen davon abhängig machen zu wollen, ob es sich bei diesen um „Personen“ handelt oder nicht.[177]
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Von den geschilderten absoluten (d.h. von menschlichem Dafürhalten unabhängigen) Ansätzen zu unterscheiden sind relative oder relativistische Begründungsansätze, die moralische Positionen durch den Rekurs auf menschliche Bedürfnisse oder andere Interessen zu begründen versuchen. Auf diesem Weg ist eine dem menschlichen Dafürhalten entzogene „Letztbegründung“ nicht erreichbar, es sei denn, man würde versuchen, die Begründung auf bestimmte als unveränderlich angesehene Elemente der menschlichen Natur zu stützen. Man könnte insofern von einer Variante des Naturrechts sprechen. Nimmt man an, es existierten Interessen, die allen Menschen gemeinsam sind, so lassen sich auch unter Zugrundelegung eines relativistischen Ansatzes universalistische Moralnormen formulieren, also Normen, die für alle Menschen gelten sollen.[178] In der jüngeren Wissenschaftslehre und Ethik