Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Allgemein aber gilt: Auch bei einer Orientierung an einem Fachsprachgebrauch (der freilich ohnehin nur selten aufzufinden ist), erst Recht aber bei einer am Allgemeinsprachgebrauch können wirklich sprachliche Grenzen einer Begriffsverwendung allenfalls sehr weit gezogen werden.[21] Im o.g. Sinne des Gegensatzpaares von Bedeutungsreduzierung oder -mehrung wirkt daher die grammatische Auslegung regelmäßig bedeutungsmehrend.[22] Auch im Strafrecht werden – ungeachtet Art 103 Abs. 2 GG – Begriffe mitunter weiter verstanden, als es ein Laie auf den ersten Blick erwarten würde: So kann z.B. eine Urkunde i.S. des § 267 Abs. 1 StGB nicht nur ein feierlich unterzeichnetes Schriftstück mit Siegel oder zumindest Stempel oder Unterschrift sein, sondern auch ein Bierdeckel, auf dem die Bedienung für jedes konsumierte Getränk einen Strich gemacht hat.[23]
b) Verengung der Verständnismöglichkeiten
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Eine Verengung der Verständnismöglichkeiten kommt praktisch nur in Betracht, wenn einem Normtext eine Bedeutung zugerechnet werden soll, die so weit von der üblichen Verwendung abweicht, dass sich die dafür erforderlichen Begründungslasten niemand mehr aufbürden möchte. So wird sich z.B. selbst bei noch so wichtigen Zweckerwägungen niemand davon überzeugen lassen, auf das Verhältnis zwischen Vater und Tochter die Vorschriften über Ehegatten (unmittelbar) anzuwenden, bei der Zerstörung eines Spiegels oder einer Vase die Tötungstatbestände heranzuziehen oder aber hinsichtlich der gewerberechtlichen Zulässigkeit einer Imbissbude die Anwendung der atomrechtlichen Genehmigungsvorschriften als einschlägig zu erachten. Umgekehrt sind Begründungslasten auch dann nur schwer zu tragen, wenn die Anwendung eines Normtextes in einem Fall ausgeschlossen sein soll, in dem ein Proto- bzw. Stereotyp[24] des verwendeten Begriffes vorliegt: So wird schwer zu begründen sein, dass eine Vorschrift, die in einem allgemeinen Zusammenhang von allen „Vögeln“ spricht, „Amsel, Drossel, Fink und Star“ nicht erfassen soll. Nicht zufällig sind all diese Beispiele nicht nur einigermaßen praxisirrelevant, sondern auch einfach zu lösen.[25]
c) Erweiterung der Verständnismöglichkeiten
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Vielmehr wird das grammatische Argument im Regelfall zu einer Erweiterung der Verständnismöglichkeiten bzw. zum Nachweis (oder zumindest der Behauptung) herangezogen werden, dass die Verständnismöglichkeit keineswegs auf eine die Subsumtion ausschließende Lesart festgelegt ist. Eine Kontextualisierung, die auf das offene Medium der Sprache abstellt, eröffnet zumeist einen mehr oder weniger weiten Plausibilitätsspielraum. Dieser wird in konkreten Auslegungsvorgängen oft mit Sätzen wie „Die grammatischen Auslegung ist demnach offen.“ oder „Nach einer grammatischen Auslegung sind also beide Ansichten gleichermaßen vertretbar.“ zum Ausdruck gebracht. Eine Verengung der Bedeutungsvarianten bleibt in wirklich problematischen Fällen zumeist anderen Kontexten vorbehalten, und nicht ohne Grund zeigen empirische Studien, dass auch für die Rechtsprechung die grammatische Auslegung meist nur den „Einstieg in die Kontextualisierung“ bildet und das grammatische Argument regelmäßig nicht allein steht, sondern mit anderen Auslegungsargumenten kombiniert wird.[26] Exemplarisch: Wenn im Streit um das Erfordernis eines „Absatzerfolges“ bei der Handlungsvariante des „Absetzens“ bzw. „Absetzen-Helfens“ in § 259 Abs. 1 StGB teilweise behauptet wird, schon die Formulierung „wer (. . .) absetzt (. . .)“ zeige, dass eine Vollendung nur bei Eintritt eines Absatzerfolges vorliegen kann, kann demgegenüber eingewandt werden, dass „absetzen“ ohne Weiteres auch ein Verhalten als solches i.S. eines „auf Absatz gerichteten Tätigwerdens“ beschreiben kann. Zwar verwendet der Gesetzgeber zugegebenermaßen Verben auch sonst nicht selten in dem Sinne, dass ein bestimmter Zustand hergestellt wird (so etwa das „töten“ in § 212 StGB) – indes überschreitet dieses Argument bereits die Grenzen einer rein grammatischen Auslegung, und in der Begründung seines Rechtsprechungswandels zum Merkmal „Absetzen“[27] schließt der BGH seinen Wortlauterwägungen systematische, teleologische und historisch-genetische Argumente nach.
d) Beispiele aus der Rechtsprechung
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– | In BGHSt 33, 398 entschied der 1. Strafsenat, dass die Maßregel nach § 66 Abs. 2 StGB nicht ausgesprochen werden darf, wenn der Angeklagte zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, da die für die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorausgesetzte Verurteilung „zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren“ nicht vorläge. Die Argumentation des GBA, über § 57a StGB sei die lebenslange Freiheitsstrafe wenigstens faktisch zu einer zeitigen umgestaltet worden, überzeugte den Senat nicht. |
– | Ist eine Urkunde auch dann „unecht“ i.S.d. § 267 StGB, wenn sich der berechtigte Aussteller am Ausstellungsdatum zu schaffen macht? In BGHSt 9, 44 wird für diese Frage allein die Überprüfung anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs als zielführend angesehen: Danach komme es für die Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde nur auf die Person des Ausstellers an. Folglich sei z.B. das Rückdatieren einer Urkunde nicht von der Strafvorschrift erfasst. |
– | Laut BGHSt 45, 211 (216) trifft die Strafschärfung des § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB auch denjenigen Täter, der den Brand legt, um betrügerisch die Versicherungssumme aus dem Schadensfall zu erlangen und damit „in der Absicht handelt, eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken“, auch wenn er die spezifischen Gefahren des Brandes, die der hohen Strafandrohung zu Grunde liegen, dafür nicht besonders ausnutzt. Der Versicherungsbetrug ist gerade regelmäßig die „andere Straftat“, die durch die Brandstiftung ermöglicht werden soll. |
– | Sowohl mit grammatischen als auch mit historischen Argumenten beantwortete der BGH die Frage, ob falsches Geld als echt in Verkehr bringt, wer es einem eingeweihten Mittelsmann überreicht (BGHSt 29, 311). Da im konkreten Fall nur eine Bestrafung aus § 147 StGB in Frage kam, wurde zunächst festgestellt, dass die Kenntnis des Mittelsmanns von der Falschheit des Geldes das Tatbestandsmerkmal „als echt in Verkehr bringen“ nach allgemeinem Sprachgebrauch „final gesehen“ nicht ausschließt (S. 313). Mit Argumenten aus der Entstehungsgeschichte überwand der Senat sodann die sprachlich-systematische Erwägung, dass das Fehlen der Unterscheidung zwischen Inverkehrbringen als echt und dem Ermöglichen eines solchen Inverkehrbringens aus § 146 Abs. 1 Nr. 1 StGB in § 147 StGB darauf hindeute, dass der Gesetzgeber Fälle der zweiten Alternative, zu der auch der konkrete Sachverhalt zuzuordnen war, nicht erfasst sehen wollte. |
e) Exkurs: „Grammatische Auslegung“ und „Regeln der Grammatik“
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