Jugendgerichtsgesetz. Herbert Diemer

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Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer Heidelberger Kommentar

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ein (von mir so genanntes) Dreieckssystem wechselseitiger Kontrolle und Begrenzung. Die einzelnen Elemente sind vergangenheitsbezogen (Schuld), zukunftsorientiert (Erziehung), Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig verbindend (Verhältnismäßigkeit) sowie tatorientiert (Schuld), täterorientiert (Erziehung) und beide verbindend (Verhältnismäßigkeit von Tat und Sanktion). Bildlich ist ein gleichseitiges Dreieck mit den Eckpunkten Erziehung, Schuld und Verhältnismäßigkeit vorstellbar. Aufgrund gesetzlicher Vorgaben in den §§ 2 Abs. 1 und 18 Abs. 2 steht der Erziehungsaspekt an der Spitze, limitiert durch das nicht über 5 Jahre hinausreichende erzieherische Optimum. Wird das Dreieck um seinen Mittelpunkt gedreht, tritt der Schuldgesichtspunkt in den Vordergrund, begrenzt durch das Schuldüberschreitungsverbot. Der Erziehungsaspekt entfernt sich mehr aus seiner Vorrangstellung bis hin fast zur Bedeutungslosigkeit, bleibt aber gerade noch sichtbar. In diesem System hat zwar der Erziehungsgedanke die Spitzenposition inne, wird aber gleichsam „gebändigt“ durch die rechtsstaatlich gebotene Einbindung (Erziehung i.S. einer „inneren Umkehr“ darf nicht mit Gewalt erzwungen werden, Ostendorf Rn. 4 vor §§ 1 und 2 unter Hinweis auf BVerfGE 22, 180). In dieser Einbindung bleibt der Erziehungsaspekt Garant für jugendgemäße Reaktionsformen mit dem Ziel einer Besserstellung gegenüber straffällig gewordenen Erwachsenen. Er ist gleichzeitig Impulsgeber für weitergehende Reformen und gibt dem JGG die Chance, die zwischenzeitlich eingebüßte Schrittmacherrolle gegenüber dem allgemeinen Strafrecht wieder zu übernehmen.

3. Einzelne Strafzumessungsschritte

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      In einem ersten Schritt ist die Dauer der Jugendstrafe für die erforderliche erzieherische Einwirkung zu bestimmen. Theoretisch darf hier die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung noch keine Rolle spielen. Die hohe Aussetzungsquote von 2016 = 58,9 % (5.914 von 10.013) der Jugendstrafen lässt aber Wechselwirkungen in dem Sinne vermuten, dass die Möglichkeit der Strafaussetzung praktisch die Strafhöhenfestsetzung sehr stark bestimmt. Hinsichtlich der Erforderlichkeit der Dauer der Jugendstrafe ist zwischen generellen und speziellen Überlegungen zu unterscheiden. Bei der Sanktionsprognose stellt sich angesichts des weiten Strafrahmens von sechs Monaten bis zu fünf bzw. zehn (ausnahmsweise fünfzehn) Jahren generell das Problem einer erzieherisch sinnvollen Verbüßungsdauer. Gesucht wird die Stelle, die das „erzieherische Optimum“ markiert. Unbestritten ist, dass dieser Punkt unterhalb von fünf Jahren liegen muss. Indiz dafür ist die Obergrenze von vier Jahren, die der inzwischen weggefallene § 19 für die Jugendstrafe von relativ unbestimmter Dauer vorgesehen hatte. Von daher vertritt Schaffstein die Auffassung, dass vier Jahre in extremen Ausnahmefällen noch verantwortet werden könnten, während im Normalfall schon Jugendstrafen von über zwei Jahren die Sozialisation gefährdeten und durch Abstumpfung und andere Prisonisierungsfolgen schadeten (Schaffstein 1972, S. 464). Die Vollzugswirklichkeit legt eine noch kürzere Dauer von einem bis zu eineinhalb Jahren nahe (vgl. Brunner/Dölling § 18 Rn. 3 m.w.N.). Mit 36,5 % lagen 2017 die meisten Jugendstrafen im Bereich zwischen einem Jahr und 2 Jahren und damit unter der Zeitspanne, die erzieherisch für optimal gehalten wird. 20,6 % lagen zwischen neun Monaten und einem Jahr. 16,1 % der Jugendstrafen betrafen den Zeitraum von sechs bis zu neun Monaten. Die Zahlen zeigen die Skepsis gegenüber den stationären Sanktionen und signalisieren eine „Abkehr von der früheren Behandlungsideologie“.

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      Bei der Sanktionsprognose sind speziell auch die Möglichkeiten der jeweiligen Anstalt einzuschätzen. Unzulässig ist es jedoch, die Dauer der Jugendstrafe von der Ausbildungszeit im Vollzug abhängig zu machen (Ostendorf § 18 Rn. 11, differenzierend dagegen BGH StV 1987, 306). Hier sind stattdessen Möglichkeiten zu schaffen, eine im Vollzug begonnene Ausbildung in Freiheit fortsetzen zu können (Schlussbericht der Jugendstrafvollzugskommission, 1980, S. 49, aktuell: Übergangsmanagement). Bei einer mit einem hohen erzieherischen Nachholbedarf begründeten Jugendstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten muss die Länge der Strafe näher erläutert werden; speziell im Hinblick auf die festgestellten Erziehungsdefizite und die Möglichkeiten, sie mit den im Jugendstrafvollzug zur Verfügung stehenden Mitteln zu beheben, BGH NStZ-RR 2008, 258.

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      Im Mittelpunkt der Bestimmung der Dauer der Jugendstrafe für die erforderliche erzieherische Einwirkung steht die Sozialprognose. Dabei geht es konkret um die Einschätzung des künftigen Verhaltens des straffällig Gewordenen (Rückfall- bzw. Kriminalprognose) und die Möglichkeit und Beeinflussbarkeit, erneute Straffälligkeit durch eine entsprechende Dauer der Jugendstrafe zu verhindern. Sozial- und Sanktionsprognose setzen eine Würdigung der Täterpersönlichkeit voraus (Karranedialkova-Krohn/Fegert 2007, S. 285 ff.; allgemein zur Prognose: Laubenthal/Baier/Nestler Rn. 550 ff. sowie das Schwerpunktheft ZJJ 3/2010 zur Diagnose und Prognose im Jugendstrafverfahren). Neben Elternhaus und Kindheit, Aufenthalts- und Wohnbereich, Schule und Arbeit, Freizeit und Sozialbereich sind die Entstehungszusammenhänge von Kriminalität mit ihren personellen, sozialen und institutionellen Faktoren (wie z.B. Stigmatisierungseffekten) zu berücksichtigen (der letzte Punkt fehlt in Göppingers Leitfaden für die Praxis zur Erfassung des Täters in seinen sozialen Bezügen mit Hilfe der Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse = Göppinger 1985. Zur MIVEA = Göppinger/Bock Kriminologie, 6. Aufl. 2008, S. 248, 343; Bock Kriminologie, 4. Aufl. 2013, S. 121–270, Nixdorf NK 2018, 366). Für die Prognose sind auch Einflussfaktoren nach der Tat von Bedeutung. Der BGH hat den Strafausspruch im Falle einer Verurteilung wegen Totschlages zu einer vierjährigen Jugendstrafe aufgehoben, weil das Gericht positive Veränderungen bei der Angeklagten nach der Tat nicht hinreichend gewürdigt hat (Wohnung, Kindergartenplatz, Lehrstelle). Es fehlt eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Strafe (BGHR JGG § 17 Schwere der Schuld 1; vgl. auch BGH StV 1998, 335 und NStZ-RR 1998, 86). In einem anderen Fall vermisst der BGH eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Vollzug einer wegen schwerer räuberischer Erpressung verhängten fünfjährigen Jugendstrafe auch im Hinblick auf die zu erwartende Nachreife aus erzieherischen Gründen erforderlich ist, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 7. Ändert sich im Fall einer gewaltsamen Entwendung eines Pkw der Schuldspruch von Raub (Zueignungsabsicht) in räuberische Erpressung (bloße Gebrauchsabsicht) ist trotz desselben Strafrahmens der Strafausspruch zur Höhe der Jugendstrafe aufzuheben, BGH NStZ-RR 1999, 103 f.

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      Aufgehoben worden ist auch der Strafausspruch im Fall einer Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Einheitsjugendstrafe von acht Jahren(BGH NStZ-RR 2020, 30), weil nicht dargelegt worden ist, warum die vom Landgericht zur Strafzumessung angeführten Ziele (Erwerb von Berufsqualifikation, Entwicklung eigenständiger Lebensperspektive, moralische Fortentwicklung einer Lebensplanung) nur und erfolgversprechender im Rahmen einer 8-jährigen Jugendstrafe erreicht werden können. Es fehlt eine Auseinandersetzung mit den entsozialisierenden Wirkungen einer langjährigen Freiheitsstrafe und jeglicher Begründung, wie die positiven Erwartungen erfolgreich durch eine Jugendstrafe von mehr als 5 Jahren erzielbar sind. Wie schon in BGH StV 1988, 307 bei der Bemessung der Jugendstrafe eine genaue und nicht nur formelhafte Prüfung verlangt wird, „warum die verhängte Jugendstrafe unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes, der charakterlichen Haltung und der dem Verurteilten zu stellenden Sozialprognose erzieherisch geboten war“, wobei auch tatnachfolgende Ansätze zu positiver Entwicklung hinreichend zu berücksichtigen sind (BGH NStZ 1988, 491 [Böhm] u. NStZ-RR 2000, 322 [Böhm]; BGH ZJJ 2003, 302: Loslösung der Angeklagten von Mitangeklagten, neue feste Beziehung). Dass Taten länger zurückliegen, ist ebenso wie ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot strafmildernd zu berücksichtigen, BGH NStZ-RR 1996, 317, StV 1999, 681,

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