Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
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1. Der Zusammenhang zwischen Grundfreiheiten und Normsetzung
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Konnex Grundfreiheiten und Rechtsetzung
Das bereits erwähnte Alleinstellungsmerkmal der EU gegenüber anderen überstaatlichen Einrichtungen, nämlich aufgrund überlassener Rechtsmacht eigenes Recht zu setzen, wie man es sonst nur aus dem Nationalstaat kennt, steht in einem spezifischen Zusammenhang zu den in den Verträgen enthaltenen Verbotsnormen, die die Errichtung eines Binnenmarktes bezwecken.[45] So besteht ein zumindest faktischer Zusammenhang zwischen der Reichweite der Grundfreiheiten und der Gesetzgebungstätigkeit der Union im Rahmen der ihr zugewiesenen Kompetenzen.[46] Dieser Zusammenhang lässt sich wie folgt beschreiben: Bereits damit, dass eine mitgliedstaatliche Regelung in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten gerät, lässt sich stets ein Tätigwerden der Union begründen – nicht selten auf Grundlage der allgemeinen Binnenmarktkompetenz in Art. 114 AEUV.
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Vergleich mit anderen Freihandelsregimen
Der Vergleich mit anderen Freihandelsregimen macht den qualitativen Unterschied deutlich: Ergibt sich etwa im WTO-Recht, dass eine nationale Maßnahme aus Gründen beispielsweise des Gesundheitsschutzes hinzunehmen ist, dann endet das Freihandelsrecht an dieser Stelle. Es bleibt bei parzellierten Märkten. Anders das Unionsrecht. Selbst wenn in einem ersten Schritt eine Grundfreiheit nicht durchgreift, weil geschriebene oder ungeschriebene Rechtfertigungsgründe, wie etwa Gesundheitsschutz bestehen, so wird doch in einem zweiten Schritt entsprechende Harmonisierungsgesetzgebung naheliegen, um das – zunächst unionsrechtlich hinzunehmende – Hindernis für den Binnenmarkt zu überwinden. Zur Überwindung der parzellierten Märkte zwecks Schaffung des Binnenmarktes liegt die europaweite Harmonisierung nahe. Ob dieser Zusammenhang zwischen negativer Integration (Anwendungsbereich der Verbotsnormen/Grundfreiheiten eröffnet) und positiver Integration (europäischer Gesetzgebung zwecks Rechtsangleichung) sich durchgehend empirisch nachweisen lässt, ist offen. Immerhin lässt sich belegen, dass bestimmte EuGH-Entscheidungen im Bereich der Warenverkehrsfreiheit den europäischen Gesetzgeber auf den Plan rufen.a[47] Jedenfalls erzeugt die Tatbestandlichkeit einer nationalen Maßnahme im Bereich von Grundfreiheiten eine Nähe zum unionsrechtlichen Regelungskreis.
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Anwendungsbereich der Grundfreiheiten
Dies erklärt die Bedeutung von Anwendungsbereichsöffnungen wie etwa der Dassonville-Formel[48] und Anwendungsbereichsverkürzungen wie etwa der Keck-Formel[49] auch für den Rechtsetzungskompetenzbereich der Union. Mit dem Konzept des Beschränkungsverbotes lassen sich bereits die bloßen Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen als Problem interpretieren. Die enorme Reichweite der als Beschränkungsverbote verstandenen Grundfreiheiten – im Gegensatz zu reinen Diskriminierungsverboten – erlangt damit eine Bedeutung für die Gesetzgebungsreichweite. Zugleich ergibt sich daraus eine spezifische Dynamik der Gesetzgebung, die auf die Überwindung von Rechtsungleichheit abzielt.[50]
2. Compétences abolies
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Allseits vernichtete Rechtsmacht
Darstellungen, die eine uferlose Weite der europäischen Kompetenzen suggerieren, indem sie die Berührung von Lebensbereichen insbesondere durch die unionsrechtlichen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote mit europäischen Regelungskompetenzen in einen Zusammenhang stellen, verkennen, dass ein europarechtliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit etwa im Bereich des Zugangs zu Bildungseinrichtungen keiner allgemeinen europäischen Regelungskompetenz für die Bildungspolitik entspricht.[51] Ähnlich verhält es sich mit dem europarechtlichen Verbot einer Verunmöglichung der effektiven Bekämpfung protektionistischer Subventionen durch nationale Behörden. Dies entspricht keinesfalls einer europäischen Regelungskompetenz für das allgemeine Verwaltungsverfahren oder das nationale Prozessrecht.[52] Vielmehr kommen bestimmte Kompetenzen, wie etwa die Kompetenz zur Regelung des Zugangs zu Bildungseinrichtungen unter Verwendung des Kriteriums der Staatsangehörigkeit, gar keiner öffentlichen Gewalt in Europa mehr zu, weder in den Mitgliedstaaten noch auf europäischer Ebene. Allgemein formuliert: Die Rechtsmacht (Kompetenz), in einer Regelung an ein Tatbestandsmerkmal „Staatsangehörigkeit“ unterschiedliche Rechtsfolgen zu knüpfen (Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit) besteht in der EU weder auf mitgliedstaatlicher Ebene noch auf europäischer Ebene mehr.[53] Man nimmt diesen Vorgang meist nicht als bewusste, aktive Kompetenzgestaltung wahr. Dennoch hat die Kompetenz sich verflüchtigt und besteht nicht mehr. Hier ist von „compétences abolies“ gesprochen worden.[54]
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Tragweite primärrechtlicher Verbote
Eine Rechtsmacht und Rechtsetzungsspielräume auf Mitgliedstaatenebene vernichtende Wirkung von Unionsrecht geht dabei nicht selten auf das Primärrecht zurück, insbesondere auf die Grundfreiheiten, aber auch auf das Beihilfe- oder Kartellrecht. Dass mitgliedstaatliche Spielräume für diskriminierende oder protektionistische Maßnahmen entfallen, lässt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht sofort erkennen, weil es sich auf sekundärrechtliche Zusammenhänge konzentriert.
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Keine Nullsummenbetrachtung
Damit wird deutlich, dass für die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union,[55] so die Formulierung in Deutschland[56] und in Österreich[57], bzw. von Souveränitätsrechten, in der Sprache des EuGH 1963 in der Rs. Van Gend & Loos[58], eine dingliche Betrachtungsweise im Sinne einer „Weggabe“ von rechtlich-politischer Gestaltungsmacht („Souveränitätstransfer“), den Vorgang nur unzureichend erklärt. Es geht nicht um die Aufteilung eines abgegrenzten Kompetenzbestandes. Es ist nicht so, dass das, was auf der mitgliedstaatlichen Ebene an Gestaltungsmacht verschwindet, spiegelbildlich auf der europäischen Ebene erscheint und umgekehrt.[59] Auch das in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG zum Vertrag von Lissabon bemühte Bild des Mitgliedstaatenkompetenzbestandes als einer Salamiwurst, von der ein Stück nach dem anderen abgeschnitten werde,[60] liegt neben der Sache. Die europäische Kompetenzordnung lässt sich nicht mit kommunizierenden Röhren oder einem Nullsummenspiel erklären.[61] Richtig verstanden ergibt sich die unionale Kompetenzordnung aus einer Verschränkung rechtsetzender und rechtsvernichtender, letztlich immer aus dem Primärrecht abgeleiteter und sich ergänzender Grundsätze und Maßnahmen.
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Neu entstehende Rechtsmacht
So lässt sich auch erklären, dass durch die Mitwirkung an der europäischen Integration bestimmte Kompetenzen überhaupt erst entstehen, die so zuvor auf Mitgliedstaatenebene gar nicht vorhanden sein konnten.[62] Kein Mitgliedstaat hat alleine die Rechtsmacht, unionsweite Regelungen zu treffen. Im Zusammenwirken mit den anderen Mitgliedstaaten entsteht indessen ein Anteil an einer solchen Rechtsmacht.
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Verfassungsunmittelbare