Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer

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Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band - Hugo Friedländer

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Irrenhäusern festhalten, so herrscht jedenfalls im Volke vielfach ein großes Mißtrauen gegen das Irrenhauswesen. Die ungeheuerlichen Vorkommnisse im Alexianerkloster »Mariaberg«, an denen die dort angestellten Ärzte Sanitätsrat Dr. Capellmann und Dr. Chantraine und auch der damalige Aachener Kreisarzt, Geh. Medizinalrat Dr. Kribben, einen ganz wesentlichen Teil der Schuld trugen, aber auch verschiedene Vorkommnisse in anderen Irrenanstalten haben dies Mißtrauen erzeugt. Es ist dringend notwendig, gesetzliche Bestimmungen zu schaffen, daß die Überführung geistig Gesunder in eine Irrenanstalt nicht mehr möglich ist. Andererseits sind gesetzliche Bestimmungen erforderlich, die die rechtzeitige Überführung gemeingefährlicher Geisteskranker in eine geschlossene Irrenanstalt und deren dauernde Festhaltung zur Pflicht machen. Wenn das Gericht einen Angeklagten freisprechen muß, weil es die Überzeugung erlangt hat, daß zur Zeit der Tat die freie Willensbestimmung des Angeklagten ausgeschlossen war, so verläßt dieser alsdann doch offenbar gemeingefährliche Geisteskranke die Anklagebank und kann im nächsten Augenblick dasselbe Verbrechen begehen. Der Gerichtshof muß das Recht, ja, die Pflicht haben, einen Angeklagten, den er auf Grund des § 51 des Strafgesetzbuches freispricht, ohne Verzug in eine geschlossene Irrenanstalt überführen zu lassen. Es gibt Verbrecher, die, sobald sie in Freiheit sind, alle möglichen Verbrechen begehen, weit sie den Irrenschein in der Tasche haben. Diese Leute sagen sich: Wenn ich gefaßt werde, so kann mir ja nichts weiter passieren, ich muß auf alle Fälle freigesprochen werden. In den Vorstadtkneipen Berlins wird von Komikern schon seit Jahren ein Lied mit folgendem Schlußrefrain vorgetragen:

      »Gott schütze die Psychiater und erhalte uns den Paragraphen 51.«

      Es ist zweifellos ungemein schwierig, festzustellen, ob ein Verbrecher, der womöglich unter der Einwirkung des chronischen Alkoholismus gehandelt hat und noch obendrein erblich belastet ist, vollständig zurechnungsfähig ist. Wenn aber hervorragende Psychiater einen Angeklagten, wie den Knabenmörder Ritter für geistesgestört erklären, dann sollte der Gerichtshof, wenn er auch dieser Auffassung nicht beitritt, doch in der Lage sein, dafür zu wirken, daß der Angeklagte nach beendeter Strafverbüßung einer geschlossenen Irrenanstalt überwiesen wird. Auch sollte kein Geisteskranker, selbst wenn er oder seine Angehörigen nicht in der Lage sind, das Pensionsgeld zu zahlen, aus der Irrenanstalt entlassen werden, solange die Wiedererlangung seiner geistigen Gesundheit nicht außer Zweifel steht. Es ist auch dringend notwendig, das Entweichen verbrecherischer und gemeingefährlicher Geisteskranker aus einer Irrenanstalt unmöglich zu machen und dem Wärterpersonal einzuschärfen, daß Geisteskranke als Kranke zu behandeln sind. Es ist ferner erforderlich, ehe eine Person auf Antrag eines oder mehrerer Familienmitglieder wegen Irrsinnsverdachts einer Anstalt überwiesen wird, in genauester Weise nachzuforschen, ob dem Antrag irgendwelche andere Ursachen, Erbschafts- oder unliebsame eheliche Verhältnisse zugrunde liegen.

      Der Fabrikbesitzer und Stadtverordnete Emanuel Lubecki in Beuthen, Oberschlesien, hatte Ursache, auf seine 13 Jahre jüngere Frau eifersüchtig zu sein. Frau Lubecki, eine sehr hübsche Frau, soll mit einem Angestellten ihres Mannes ein sträfliches Verhältnis unterhalten haben. Aus diesem Anlaß kam es zwischen den Eheleuten vielfach zu argen Auftritten. Lubecki geriet schließlich in derartige Aufregung, daß er oftmals heftig weinte. Die Gattin hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als den Mann, auf eine bequeme Art loszuwerden. Sie verstand es, dem in ihrem Hause wohnenden Dr. med. Locke, zu dem sie ebenfalls unlautere Beziehungen unterhalten haben sollte, zu bestimmen, ein ärztliches Attest auszustellen, in dem es hieß: Lubecki leide an aktueller Geistesgestörtheit. Dieser Arzt hatte Lubecki weder jemals untersucht, noch mit dem Hausarzt des letzteren Rücksprache genommen. Dr. Locke wußte aber auch den Kreisarzt Dr. la Roche zu bestimmen, das von ihm ausgestellte Attest gegenzuzeichnen. Der Kreisarzt soll außerdem Lubecki zugeredet haben, im Interesse seiner Gesundheit sich in ein Sanatorium zu begeben. Durch List gelang es der Gattin, den Mann nach der Provinzial-Irrenanstalt Leubus in Schlesien zu locken. Lubecki glaubte, in ein Sanatorium zu kommen. Als sich die Pforten des Irrenhauses hinter ihm geschlossen hatten, sah der Mann, der noch am Tage vor seiner Einlieferung als Schöffe in einer anstrengenden Gerichtssitzung mitgewirkt hatte, daß er sich in einem Irrenhaus befinde. Lubecki versuchte die Ärzte zu überzeugen, daß er nicht geisteskrank und nur durch Intrige seiner Frau ins Irrenhaus gekommen sei. Die Ärzte beachteten dies aber nicht, sondern behandelten ihn als Trinker und Paralytiker, obwohl er nachweislich niemals Trinker war.

      Nach vollen fünf Monaten gelang es dem Bruder Lubeckis, ihn aus der Irrenanstalt zu befreien. Der durch die fünfmonatige Gefangenschaft finanziell ruinierte Mann versuchte seine Rehabilitierung bei den Ministern des Innern und der Justiz. Er wandte sich schließlich, aber ebenfalls ohne Erfolg, an das Zivilkabinett des Königs. Die »Zeit am Montag« brachte schließlich am 25. November 1907 mit der Überschrift: »Moderne Irrenhausfolter« einen Leitartikel. In diesem wurde der Vorfall eingehend besprochen und die Notwendigkeit einer gründlichen Irrenhausreform betont. Es wurde in dem Artikel erwähnt, daß der maßgebende Oberarzt der Provinzial-Irrenanstalt Leubus, Dr. v. Kunowski, der Schwiegersohn des Direktors Geh. Medizinalrats Dr. Alter und der erste Assistenzarzt der Sohn des Direktors sei. Es wurde daher in dem Artikel von einer famosen »Ärzte-Dreifaltigkeit«, brutaler Vergewaltigung usw. gesprochen. Der Landeshauptmann der Provinz Schlesien stellte gegen den Verfasser des Artikels, damaligen Chefredakteur der »Zeit am Montag«, Karl Schneidt, Strafantrag wegen Beleidigung der genannten Irrenhausärzte.

      Schneidt hatte sich deshalb vom 8. bis 11. November 1908 vor der siebenten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Splettstoeßer. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Rasch. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Dr. Halpert.

      Als Sachverständige waren geladen: der Direktor der Irrenanstalt Herzberge, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Moeli, Geh. Medizinalrat Dr. Arthur Leppmann und Medizinalrat Dr. Hoffmann.

      Der Angeklagte Schneidt bemerkte nach Verlesung des zur Anklage stehenden Artikels: Er übernehme für den Artikel die volle Verantwortung. Er hatte nicht die Absicht, jemand zu beleidigen. Er wollte nur einen öffentlichen Mißstand rügen. Er habe im übrigen in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt, denn das, was Lubecki passiert sei, könne jedem Menschen, auch ihm, widerfahren. Es wurde alsdann Kaufmann Emanuel Lubecki, ein sehr intelligent aussehender Mann von 51 Jahren, als Zeuge vernommen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei seit vielen Jahren und noch heute Stadtverordneter in Beuthen, Oberschlesien. Er habe lange Zeit eine geradezu mustergültige Ehe geführt. Plötzlich habe er wahrgenommen, daß seine Frau intimen Verkehr mit seinem Buchhalter unterhalte. Dadurch und auch infolge von Zerwürfnissen mit seinem Bruder Paul und geschäftlicher Aufregungen sei er sehr nervös geworden. Auf Veranlassung seines Bruders Paul und seiner Frau wurde ein Familienrat berufen. Ein Justizrat erklärte im Familienrat, er (Zeuge) sei geisteskrank und müsse in ein Irrenhaus. Am folgenden Tage sei der Kreisarzt Medizinalrat Dr. la Roche zu ihm gekommen mit dem Bemerken: Herr Lubecki, Sie arbeiten Tag und Nacht, für Ihre Gesundheit tun Sie aber gar nichts. Ich rate Ihnen, gehen Sie auf einige Wochen nach Leubus. Er erwiderte: Sie muten mir doch nicht etwa zu, ins Irrenhaus zu gehen? Sie sollen nicht ins Irrenhaus, sondern in das Leubuser Pensionat gehen, das ist ein sehr gutes Sanatorium, in dem Sie volle Bewegungsfreiheit haben, erwiderte der Kreisarzt. Nach langem Zureden habe er sich schließlich entschlossen, dem Rate Folge zu leisten, er habe aber sofort gesehen, daß er sich in einer Irrenanstalt befinde. Seine Einwendungen, daß er doch nicht geisteskrank sei und nicht ins Irrenhaus gehöre, wurden mit Hohnlachen beantwortet. Der Zeuge schilderte alsdann eingehend die lieblose Behandlung, er sei geschlagen, ins Wasser gesteckt worden usw. Depeschen, die er an den Landeshauptmann und den Minister des Innern gerichtet hatte, seien nicht abgeschickt worden. Ein Pfleger habe ihm gesagt, die Ärzte verständen keinen Spaß, es werde jeder Widerstand gebrochen. Der Oberarzt Dr. v. Kunowski verordnete ihm Beruhigungspillen. Dadurch geriet er in noch viel größere Erregung. Er lehnte es daher ab, die Pillen weiter zu nehmen. Der Oberarzt bedeutete, wenn er die Pillen nicht nehmen wolle, dann lasse er ihn zwölf Stunden ins Wasserbad stecken. »Wir werden Sie schon kirre kriegen.« Ein Pfleger, der die Pillen nahm, wurde

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