Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer
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Der Referent im Ministerium des Innern, Regierungsrat Dr. Castor, bekundete: Die Angeklagte sei nicht liebevoll im Sinne christlicher Nachsicht und Geduld, wie es den Grundsätzen des Maximilianstiftes entspreche, mit den meist hochbetagten Damen verfahren, sondern roh, unfreundlich, heftig und hart zu ihnen gewesen. Das Verhalten der Angeklagten habe Anlaß gegeben, sie mehrfach zu verwarnen.
Fräulein Lotz, die, da sie krankheitshalber nicht erscheinen konnte, kommissarisch vernommen war, hatte bestätigt, daß sie der v. Heusler sofort am selben Abend von der Erkrankung der Wagner Mitteilung gemacht und dabei den Verdacht geäußert hatte, jemand müsse der Wagner etwas in den Kaffee getan haben. Die Anklage hatte es nämlich als auffallend bezeichnet, daß die Angeklagte zuerst und von selbst von Kaffee und Salzsäure gesprochen habe, ohne daß zu ihr jemand vorher von dem Kaffee der Wagner gesprochen hätte.
Der Arzt, der die Wagner zuerst behandelt hatte, bekundete: Er habe nur festgestellt, daß eine Vergiftung vorliege; er habe aber nicht konstatiert, daß es sich um eine Salzsäurevergiftung handle.
Der Krankenhausarzt bekundete: Er habe nicht den Eindruck einer schweren akuten Vergiftung gehabt; er nahm an, daß es sich zum großen Teil um nervöse Erscheinungen handelte.
Apotheker Dr. Rapp: Er habe den von der Wagner ins Krankenhaus mitgebrachten Kaffeerest untersucht; dieser habe zwanzigmal soviel Salzsäure enthalten, wie man vertragen könne.
Eine Zeugin erklärte: Die Wagner sei eines Meineids fähig gewesen. Einige Zeugen schilderten die Angeklagte als fleißig und zuverlässig, andere als klatschsüchtig, zänkisch und verlogen.
Medizinalrat Dr. Stampf, ehemaliger Hausarzt des Stifts, bekundete: Er hatte den Eindruck, daß die Angeklagte eine sinnliche Person mit perverser Veranlagung sei, Einzelheiten, auf die sich diese Annahme stützte, vermag er nicht anzugeben.
Hofrat Dr. med. Schröder hatte die Angeklagte in einem Berichte als leidenschaftlich, herrschsüchtig, lügenhaft und unzuverlässig bezeichnet. Er halte dieses Urteil, obwohl er es im einzelnen nicht mehr zu begründen vermag, aufrecht.
Es folgte sodann die Vernehmung der medizinischen Sachverständigen. Universitätsprofessor Dr. Schmidt-München: Er habe Minna Wagner operiert, und zwar 1903 kurz nach der ersten Gerichtsverhandlung. Es wurde eine deutliche Verengerung des Magenausgangs festgestellt; aber es fiel gleich auf, daß keine Spur von einer Verätzung vorhanden war. Auffallend war ferner, daß die Wagner erbrach, ohne über Magenbeschwerden zu klagen. Bei einer späteren Bauchöffnung wurde eine Verschiebung im Dickdarm gefunden. Nach Beseitigung dieses Übelstandes erholte sich die Wagner sehr schnell. Verletzungen an der hinteren Magenwand waren nicht vorhanden; das spreche dafür, daß der angeblich vergiftete Kaffee nicht geschluckt worden sei. Wenn die Wagner die Salzsäure heruntergeschluckt hätte, würde sie unmöglich bis zum nächsten Morgen auf den Arzt gewartet haben, weil die Salzsäure unsägliche Schmerzen verursache.
Als Todesursache der Wagner gab Prof. Dr. Meyer-München eine große Eiterung der Bauchhöhle an, die bis zu den unteren Extremitäten gegangen sei. Erscheinungen von Vergiftungen wurden nicht festgestellt, nur eine schwere Infektion infolge eines Magenleidens.
Dr. med. Müller schilderte Minna Wagner ebenfalls als wenig wahrheitsliebend. Einmal sei sie betrunken heimgekommen.
In der Hand hatte sie eine Puppe, die in der einen Hand einen Rosenkranz, in der anderen eine Giftflasche mit einem Totenkopf hatte. »Das ist die Heusler«, sagte sie, auf die Puppe weisend.
Das Dienstmädchen Sommer bekundete, daß die Wagner oft Blutspucken simuliert habe. Auch habe sie sich Heftpflaster auf das Gesicht geklebt und behauptet, sie hätte die Gesichtsrose.
Schwester Frosch-Feuchtwangen: Mehrere Kranke haben ihr erzählt, die Wagner habe sie mit Ohrfeigen bedroht für den Fall, daß sie verraten würde, wenn sie heimlich Speisen zu sich nehme.
Kaufmann Gmöhling (Feuchtwangen): Die Wagner habe sich, nachdem sie von der ersten Verhandlung zurückgekehrt war, ein Faß Wein und später noch ein Faß Äpfelmost aus München kommen lassen. Beide Fässer seien auffallend schnell leer geworden. Die Wagner habe oftmals Krampfanfälle gehabt.
Zeugin Butzmann war in der ersten Verhandlung eine der Hauptbelastungszeuginnen. Sie war über 18 Jahre lang Wäscherin im Stift.
Vors.: Die Angeklagte soll öfter gefragt haben, ob der Wagner denn gar nichts fehle, daß sie herauskommen könne. Haben Sie das der Wagner wiedererzählt?
Zeugin: Ja. Ich sagte ihr auch, sie solle gehen; sie antwortete: Weshalb denn? Es sei ja kein Anlaß dazu da. Einmal sagte ich zur Angeklagten: »Das war doch eine teuflische Rache.« Darauf erwiderte die Angeklagte: »Sie glauben wohl, ich bin es gewesen?« Im Garten sagte die Angeklagte einige Tage später zu mir: »Beten Sie nur recht tüchtig, daß die Geschichte gut ausgeht.« Sie bekommen etwas Schönes, wir gehen dann nach Altöttingen wallfahrten.
Ingenieur Lippmann, früher in München, später Lehrer an der Kgl. Maschinenbauanstalt in Köln, bekundete: Ich habe unter dem Eindruck der öffentlichen Meinung Mitleid mit der Wagner empfunden und sie in meinen Haushalt genommen, wo sie mit leichter Hausarbeit und der Beaufsichtigung meines damals zweijährigen Kindes beschäftigt wurde. Sie machte zunächst einen sehr bescheidenen Eindruck und bedankte sich herzlich. Statt aber am 16. den Dienst anzutreten, kamen ihre Sachen erst acht Tage später, und es hieß, sie selbst habe eine falsche Bahn benutzt. Endlich erschien sie am 27. und sagte, sie hätte an einem Magenübel gelitten, während Justizrat Feust mir geschrieben hatte, sie sei vor Freude krank. Schon am Tage, nachdem sie eintrat, wurde das Fehlen von Lebensmitteln bemerkt, obwohl sie erklärt hatte, sie dürfe gar nichts essen. Eines Tages kam sie vom Dr. Decker zurück und erklärte, sie dürfe jetzt wieder alles essen, solle viel Bier trinken und Saures essen. Dabei war sie sechs Stunden weggewesen und roch nach Schnaps. Als Entschuldigung gab sie an, der Doktor habe ihr etwas eingegeben, was so sauer gerochen habe. Auf der Straße habe sie sich übergeben müssen; da sei ein Schutzmann zu ihr herangetreten und habe gesagt: »Fräulein, führen Sie sich doch anständig auf!« Sie habe geantwortet: »Ich bin ja die Minna Wagner,« da habe der Schutzmann nichts weiter gesagt. Meine Frau telephonierte dann an den Doktor Decker und erfuhr, daß alles nicht wahr sei. An demselben Tage hatten wir eine Gesellschaft. Schon bei der Zubereitung der Speisen bemerkte meine Frau im Spinat und im Gelee Fingerspuren. Die Wagner wurde deshalb früh zu Bett geschickt, hatte aber vorher noch Streit mit der Köchin. Nach der Gesellschaft schloß ich alle Gashähne und untersuchte selbst noch einmal überall, ob das Gas auch wirklich abgedreht sei. Als ich schon halb im Schlaf lag, nach etwa einer halben Stunde, weckte mich meine Frau mit dem Bemerken, daß es stark nach Gas rieche. Als ich in die Küche trat, roch ich nicht nur das Gas, sondern hörte es auch ausströmen. Ich weckte die Köchin. Den Gasometerschlüssel mußte ich erst lange suchen, so daß ich den Eindruck hatte, als ob er versteckt sei. Am nächsten Morgen, als ich die Gashähne wieder öffnete, leuchtete, wie ich durch eine Glasscheibe sofort bemerkte, die Flamme im Zimmer der Wagner, die einen Selbstzünder hatte, hell auf. Meine Frau und ich beschlossen deshalb schon nach einer Woche und einem Tage, uns der Minna Wagner ohne Aufsehen zu entledigen.
Vors.: Wurden der Wagner nicht Vorhaltungen gemacht?
Zeuge: