Kreuz und Rose. Anna-Katharina Dehmelt
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Was wir da tun, wenn wir uns für einige Minuten konzentriert mit einem Bleistift oder einem Dreieck beschäftigen, ist immer noch Denken – aber ein normalerweise im Hintergrund bleibender Aspekt:
«Da werden Sie allmählich gewahr werden, daß Denken heißt: geradeso innerlich etwas tun, wie etwas äußerlich tun heißt, seine Hand gebrauchen, seinen Arm gebrauchen. Wenn Sie Ihren Arm gebrauchen, das spüren Sie. Nun müssen Sie spüren lernen, was es heißt: die Gedankenkräfte gebrauchen.»6
Wir üben in solchen ersten Schritten, unser Denken nicht nach unserer Organisation, unseren Gewohnheiten und unseren Vorlieben einzusetzen, sondern es innerlich zu ergreifen, in dem wir es an einem Thema, einem Zusammenhang entlang führen, ganz unabhängig von uns selbst, von unserem Ego. Das Denken bildet dann Unterschiede und Zusammenhänge und verbindet sie zu sinnvollen Ganzheiten. Sonst könnten wir keinen Bleistift von einem Füller unterscheiden und sie beide als Schreibgeräte erkennen.
Indem wir uns also denkend an einem einfachen Sinnzusammenhang betätigen, erüben wir eine innere Aktivität, die so selbstbewusst ist wie der Moment des Ich-Sagens. So löst sich das Ich von seinen Identifikationen, aber nicht, indem es jeden Inhalt loslässt, sondern indem es sich mit innerer Aktivität auf einen überpersönlichen Sinnzusammenhang richtet.
Und in dieser Aktivität erfährt das Ich sich gleichermaßen Sinn-erfahrend und Sinn-stiftend. Das Ich ist «wie ein Tropfen aus dem Meere der alles durchdringenden Geistigkeit»7, schreibt Steiner. Hier könnten wir uns vielleicht sogar mit dem Buddhismus treffen. Aber für Steiner ist das Meer der alldurchdringenden Geistigkeit nicht leer, sondern – hier steht er wohl dem Hinduismus näher – innerlich sinnvoll, es besteht sozusagen ganz aus Sinn.
Das Ich hat teil an diesem umfassenden Sinn, gehört ihm selbst an. In dieser Perspektive kann der Tropfen des Ich nun das Meer möglicher Sinnstiftungen, das Steiner «Geistige Welt» nennt, zu erforschen beginnen. Und hier fängt die anthroposophische Meditation eigentlich erst an. Sie richtet sich auf das Einleben des Tropfens in das Meer. Sie richtet sich darauf, die Vereinzelung des Egos zu überwinden und das befreite Ich in der Welt des Sinnes zu beheimaten.8
Meditation
So gründet anthroposophische Meditation auf dem denkenden Ich, das sich meditierend in die Welt des Sinnes einzuüben und einzuleben vermag. Anthroposophische Meditation hat immer diesen Sinnbezug. Es geht aber nicht darum, Sinn zu konzeptionalisieren und theoretisieren, sondern Sinn gleichsam von innen zu erfahren, als innerste Natur der Welt und des Ich.
Es gibt gar nicht so viele Meditationen, die Steiner für die Öffentlichkeit bestimmt hat.9 Die wichtigsten, ausführlich und methodisch beschriebenen Anleitungen finden sich in der sogenannten Rosenkreuz-Meditation, in einer Meditation über die Prozesse des Sprießens und Welkens in der Natur oder in einer Meditation, die sich auch inhaltlich ganz in der Qualität des Denkens hält und die in der Formel «Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens» zusammengefasst wird.10 Im Grunde aber ist alles meditationsfähig, jeder Stein und jeder Baum, jede Frage und jedes Problem. Die Kunst ist, das Thema einer Meditation so in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken, dass Thema und meditierendes Ich konvergieren, zusammenfließen, in der Meditation ineinander übergehen. Auch hier also: das Gegenteil von Loslassen! Stattdessen aktives Ergreifen und bewusstes Versenken in einen Inhalt, um ihn von innen, seiner innersten Wesenheit nach, zu erfahren. Andernfalls steht man vor einem vielleicht interessanten Zusammenhang, der aber äußerlich bleibt, in den man nicht eindringen kann. Es geht aber gerade darum, sich ganz aus der inneren gereinigten Ich-Kraft heraus dem Meditationsinhalt quasi von innen zuzuwenden.
Um die entsprechenden inneren Handgriffe zu erüben, sind die von Steiner methodisch angeleiteten Meditationen außerordentlich fruchtbar. Man durchläuft dabei einen Prozess von der zunächst vor allem denkenden Aktivierung des Inhaltes über ein immer mehr auch das Fühlen einbeziehendes Ein- und Zulassen – wobei das Fühlen einen ähnlichen Reinigungsprozess durchläuft wie zuvor das Denken – bis hin zu einem willentlichen, existentiellen Ineinander-Aufgehen, einer Einheitserfahrung, die sich in der Sinn-Erfahrung auftut. Steiner beschreibt diese Schritte als verschiedene Bewusstseinsstufen, die er Imagination, Inspiration und Intuition nennt. Durch diese Stufen hindurch tritt die innere Aktivität zunehmend in den Hintergrund zugunsten einer offenen Empfänglichkeit.11
In der Praxis haben für viele Anthroposophen solche Meditationen die größte Bedeutung, die nicht ein Symbol, einen Naturvorgang oder einen Gedanken zum Thema haben, sondern einen zumeist mehrzeiligen, sehr sorgfältig gestalteten und oft als Mantram bezeichneten Spruch.12 An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie ein solcher Spruch so gebaut sein kann, dass er nicht nur über etwas spricht, also einen Inhalt präsentiert, sondern ihn in seiner ganzen Gestalt vergegenwärtigt und tut, also vollzieht, wovon er spricht:
«Ecce homo
In dem Herzen webet Fühlen,
In dem Haupte leuchtet Denken,
In den Gliedern kraftet Wollen.
Webendes Leuchten,
Kraftendes Weben,
Leuchtendes Kraften:
Das ist – der Mensch.»13
Der Spruch hat sieben Zeilen, von denen die ersten drei und die zweiten drei jeweils parallel gebaut sind. Die ersten drei Zeilen beginnen jeweils mit einer Ortsangabe, die sich auf die menschliche Gestalt bezieht: Herz, Haupt, Glieder. Es sind Substantive, die einerseits uns selbst meinen, die aber auch gegenständlich und in bestimmter Weise gestaltet vorgestellt werden können. Die Zeilen enden mit substantivierten Verben: Fühlen, Denken und Wollen, zu denen wir nun nur noch einen inneren Zugang haben, die uns aber doch bekannt und sogar vertraut sind. Auch der Bezug vom Fühlen zum Herz, vom Denken zum Kopf und vom Wollen zu den Gliedern ist nachvollziehbar. Das dritte Element der ersten drei Zeilen sind die Verben: weben, leuchten, kraften. Sie weisen auf die Aktivität, die hinter den Seelentätigkeiten steht, die ihrerseits in der menschlichen Gestalt manifest werden. Diese Aktivitäten sind uns normalerweise gerade wegen ihres Vollzugscharakters ganz unbewusst.
Die zweiten drei Zeilen halten sich dann ganz in diesen Vollzügen und verweben jeweils zwei dieser Vollzüge miteinander: als Adjektiv und substantiviertes Verb. Und die letzte Zeile fasst dieses ganze Geschehen in einem einfachen Satz zusammen, der allerdings durch seine lateinische Form «Ecce homo» eine weitreichende Bedeutung bekommen hat: denn so hat Pontius Pilatus von Jesus Christus gesprochen.14
Ein solcher Spruch wird vom Objekt des Nachdenkens zur Meditation, indem wir zunächst innerlich ergreifen, wovon er spricht. Hierbei ist immer noch das Denken beteiligt: nicht aber, um über den Inhalt nachzudenken, sondern um ihn wach im Bewusstsein zu halten und zugleich aufmerksam zu sein auf die Qualität der inneren Kraft, die sich dabei entwickelt. Das ist vielleicht die größte Klippe der anthroposophischen Meditation: den Übergang zu finden vom Nachdenken zum innerlich wach beobachtenden Mittvollzug. Können wir also in der Zeile «In dem Haupte leuchtet Denken» das runde Haupt in seiner abgeschlossenen Gestalt vor uns sehen und dabei die nur innerlich zu erfahrende Qualität des Denkens im Blick haben,