Kreuz und Rose. Anna-Katharina Dehmelt
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Das muss und kann geübt werden. Immer gesättigter wird dann die innere Erfahrung, immer triftiger, immer realer wird der in einem solchen Spruch eingeschlossene Sinn.
Diesseits-Spiritualität
Aber wird in einer solchen Meditation nicht einfach ein bestimmter Sinn vorgegeben? Die Frage ist berechtigt, und man kann sie eigentlich an alle von Steiner gegebenen Meditationen stellen. Und doch verfehlt sie das Wesen dessen, was hier mit «Sinn» oder von Steiner mit «Geistige Welt» gemeint ist. Der meditative Umgang mit einem solchen Spruch oder auch schon die Erfahrung, die man mit anhaltendem Bedenken eines Bleistiftes machen kann, führt nämlich zu der Einsicht, dass Sinn nicht fertig vorliegt, weder in Form von Begriffen noch in Form von Wesen, wie auch immer man diese bestimmen mag. Und die Welt liefert uns ihren Sinn schon gar nicht als fertigen mit. Wäre das der Fall, gäbe es keine Fragen und keine neuen Ideen. Sinn ist vielmehr ein Kontinuum, ein Möglichkeitsraum, der elastisch Sinnstiftungen ermöglicht, die sich im Laufe der Zeit, durch die Kulturen und durch Individuen wandeln können.
Dass wir so oft den Eindruck haben, wir würden den Sinn von etwas mit unseren gewöhnlichen fünf Sinnen einfach aufnehmen, liegt vor allem daran, dass wir die Basis der alltäglichen Sinnstiftungen bereits im Kindesalter anlegen und habitualisiert haben. Jedes Rätsel aber zeigt uns, dass Sinnstiftung immer Eigenleistung ist, und jeder Streit zeigt uns, dass Sinn ganz unterschiedlich und doch berechtigt beigelegt werden kann.
Es gehört zu den Grunddispositionen des Menschen, dass die Welt ihm den Sinn nicht mitgibt. Der Weltenlauf hält beim Menschen für einen Augenblick an und hält seinen Sinn zurück, damit der Mensch selbst zum Sinnsucher und Sinnstifter werden kann. Das begründet seine Freiheit und seine Würde.15
Diese anthropologische Grundkonstante des Menschen nimmt die Anthroposophie in sich auf. Zwar mag sie zunächst so aussehen, als wollte sie die Menschheit mit Sinnangeboten versorgen, die denen der Religionen nicht nachstehen. Aber diese Sinnangebote sind nicht dazu da, um einfach und als äußerliche übernommen zu werden, sondern sie sind Vollzüge in Sinnstiftung, deren übender Mitvollzug zu eigener Sinnstiftung befähigt.
Insofern und in der Terminologie, die Gernot Böhme eingeführt hat, handelt es sich bei der Anthroposophie nicht um eine aufsteigende Spiritualität, die sich von der Welt abwendet, sondern um eine absteigende Spiritualität, die sich der Welt zuwendet:16 um eine radikale Diesseits-Spiritualität. Sie reflektiert, dass aus dem Menschen im Laufe der Evolution ein autonomes Wesen geworden ist. Denn «der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen»17 – bis dahin, dass er den Menschen hervorgebracht hat und in ihm zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommt. Den Sinn, den die Welt hat, erhält sie heute nur noch dadurch, dass wir ihn ihr geben und sie entsprechend gestalten. Auf dieser Diesseitigkeit beruht auch die Praxiswirksamkeit der Anthroposophie in Pädagogik, Medizin oder Landwirtschaft.
Für diese Diesseits-Spiritualität braucht es eine denkende, fühlende und wollende Individualität. Denn nur das Individuum kann Sinn stiften. Ohne Sinn bleibt die Welt leer und das Leben in und mit ihr ziellos. Ohne Sinn verrät der Mensch sein innerstes sinnstiftendes Wesen. Diesseits-Spiritualität ist nur mit einer denkenden, sinnstiftenden Individualität zu haben.
Einheitserfahrungen im Konkreten
Wie sieht das nun konkret aus? Was geschieht durch eine solche Meditation wie die oben vorgestellte?
Steiner hat verschiedene Stufen unterschieden, in denen sich die innere Erfahrung entfaltet. Anknüpfend an die Traditionen, die er in seiner Umgebung vorfand, hat er die in der Meditation zu machenden Erfahrungen zunächst als Hellsichtigkeit beschrieben; später hat er die Bewusstseinsform, die in der Lage ist, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, etwas philosophischer «schauendes Bewusstsein» genannt. Dabei verwandelt sich die Qualität der Verbindung von Ich und Welt, sie wird inniger und liebevoller, ja, sie kann sogar als heilend erlebt werden, sowohl im Hinblick auf den Inhalt der Meditation wie auch auf den Meditierenden selbst. Und mit diesem Eindringen in die tieferen Schichten der Wirklichkeit geht ein Zuwachs an Freiheit, an Ideen und an Initiative einher, woraus in innerer Stimmigkeit fruchtbares Tun erwachsen kann.
Allgemeiner kann man vielleicht sagen, es entsteht so etwas wie ein Organ für Sinn, ein Sinn für Sinn im Konkreten. Eine Fähigkeit zu Einheitserfahrungen mit dem Leben, nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu. Der Spruch als Sinngebilde bildet in mir einen Sinn aus, das Wesen des Menschseins in seiner besonderen Ausprägung an diesem konkreten Menschen auch tatsächlich wahrzunehmen. Welche Geste hat das Haupt, das in seiner Abgeschlossenheit den Kosmos in seiner Kreisgestalt nachbildet? Welche Geste haben die Glieder, die ausgestreckt in ihrer Linienhaftigkeit potentiell ins Unendliche reichen? Wie werden diese beiden polaren Kräfte im Herzen miteinander verwoben? Und wie prägt sich die Dreiheit ganz konkret aus, in welchem Verhältnis stehen die drei Elemente zueinander? Es ist kein Nachdenken, sondern ein inneres Tasten im Umgang mit diesen Fragen, ein bewusstes Spüren und Erleben in und mit der inneren Tätigkeit.
So wird Sinn nicht zu einer Jenseits-Kategorie oder zu etwas willkürlich zur Welt Hinzugefügtem, sondern zum aufgeschlossenen Tor, das mich im Hier und Jetzt erleben lässt, worum und wohin es geht. Sinn wird zur Brücke, über die Ich und Welt sich miteinander verbinden und – vielleicht am wichtigsten – aneinander verwandeln. Und hierin liegt auch die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie begründet. Erfahrungen, die man mit einem Spruch wie dem oben zitierten machen kann, gehören beispielsweise zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik.
Es wäre interessant, die Haltung gegenüber anderen Menschen, die durch das Umgehen mit einem solchen Spruch entsteht, mit der achtsamen Haltung des Buddhisten zu vergleichen. Der Spruch soll ja nicht zu einem Konzept werden, mit dem ich mein Gegenüber belege. Auch der anthroposophisch Meditierende wird versuchen, sein Gegenüber so umfassend wie vorurteilslos wahrzunehmen. Er macht dabei aber die Erfahrung, dass die Wahrnehmung eines anderen Menschen sich vertieft und sinnvoll sich auszusprechen beginnt. Womöglich befähigt der Umgang mit einem solchen Spruch, die Erfahrungen mit anderen Menschen näher an das wahre Wesen des Menschen heranzurücken?
Und das Ego?
Und was geschieht derweil mit dem Ego? Wenn ich Steiner recht verstehe, ging es ihm auch gegenüber dem Ego weniger darum, es loszulassen, als es der Sphäre des von allen Identifikationen gereinigten Ich näherzubringen. Denn hinter jedem Schatten steht ein Licht, hinter jedem Egoismus eine selbstlose Fähigkeit. Im Ego drückt sich aus, wie sich der Tropfen aus dem Meer des Sinnes in dieser konkreten Person bisher manifestiert hat. Es bringt die eingegangenen Verbindungen und Identifikationen zum Ausdruck. Nur sind diese zunächst eben nicht bewusst, sondern wirken mit Eigendynamik und damit egoistisch.
Die Öffnung des Schattens zum Licht hin hat aber die Auflösung der Identifikation des eigentlichen Ich mit dem Ego zur Voraussetzung. Steiner gibt dazu eine elementare Übung: man möge abends noch einmal auf den Tag zurückschauen, dabei aber die Ereignisse rückwärts durchgehen.18 Warum? Erinnere ich vorwärts, ist sofort die Dynamik des Erlebten wieder da, ein unbedachtes Wort macht wieder wütend, eine Verletzung schmerzt erneut. Das ist beim Rückwärts-Erinnern nicht der Fall. Ich nehme die Emotion zwar wahr, werde aber nicht wieder in sie hineingezogen.
Das klingt sehr ähnlich wie die Prozesse, die Michael von Brück im Hinblick auf die Befreiung vom Leiden beschrieben hat. Für die Diesseits-Spiritualität der Anthroposophie ist es mit dem Loslassen und der Befreiung von den Anhaftungen noch nicht getan. Denn hier geht es ja gerade darum, sich mit der Welt