Ille mihi. Elisabeth von Heyking
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»Auch die Georginen müßten viel schöner sein,« sagte der Gärtner, »aber sie sind mir zu sehr verregnet.«
»Ja,« warf die Mamsell ein und rümpfte die Nase, »sie riechen ganz säuerlich und lassen schon die Blätter fallen – wir werden die Girlanden bald wieder abnehmen müssen – auf alle Fälle, ehe die gnädige Frau Mutter zurückkommt, sie kann das nicht sehen, wenn irgendwo auch nur ein Stäubchen liegt.«
»Aber nun wollen wir zu Abend essen, Mamsell,« unterbrach sie Herr von Zehren, der die übrigen schon entlassen hatte, »ich möchte endlich was Warmes zu mir nehmen. Das kalte Bier von vorhin liegt mir immer noch auf dem Magen. Komm, liebes Kind!« Und damit führte er Ilse in das lange, niedrige, dunkel getäfelte Speisezimmer, in dem eine von Hirschgeweihen gehaltene Hängelampe den Eßtisch beschien. »Aber du hast ja falsch gedeckt, Peter,« wandte er sich sofort verweisend zum Diener, »hier oben an der Spitze ist doch der Platz meiner Mutter, der hat immer für sie frei zu bleiben; die gnädige Frau und ich werden rechts und links von ihr sitzen.“
Als Peter den Tisch umgedeckt hatte, sagte Theophil zu Ilse: „Es ist besser, daß das von Anfang an so gemacht wird, Mama kömmt ja in einer Woche hierher zurück.“
So saßen sie an jenem ersten Abend im Weltsödener Speisezimmer. Es gab da nahrhafte warme ländliche Gerichte, und Mamsell hatte rasch einen heißen Grog für Theophil gebraut. Der tat ihm wohl; er wurde sichtlich vergnügter, verlangte, daß Ilse auch davon koste, und einmal, als Peter gerade das Zimmer verlassen hatte, haschte er sogar über den Tisch nach ihrer Hand und drückte die dicken roten Lippen darauf, die wie ein Widerspruch in seinem mageren Gesichte standen. Ilse fuhr erschreckt zusammen, denn es war ihr gerade jetzt an diesem Tisch, der mit seinen Blumen und Früchten etwas beruhigend Behagliches hatte, zum erstenmal gelungen, all das aus ihrem Gedächtnis zu bannen, was sie den ganzen Tag wie ein unheimliches Gespenst hinter sich gefühlt hatte. – Sie schaute ihren Mann angstvoll an und gewahrte in seinen Augen den seltsamen Ausdruck wieder, den sie seit gestern abend kannte.
Sie schob ihren Teller weg und wäre am liebsten davongelaufen – den ganzen weiten Weg zurück zu Papa und Greinchen – aber das war ja unmöglich. Sie kam sich plötzlich völlig verloren und hilflos vor. Nun zwang sie sich, recht langsam weiter zu essen. Das hielt wenigstens Peter im Zimmer. – Aber auch das zierlichste Spielen mit einer Treibhaustraube, das gedankenverlorenste Zerpflücken der Verveineblättchen im Wasser der Fingergläser und das sorgfältigste Abtrocknen der gewölbten rosa Nägelchen muß schließlich ein Ende nehmen.
Herr von Zehren war aufgestanden.
»Nun wirst du mir das ganze Haus zeigen, nicht wahr?« bat sie.
»Nein, dazu ist es heute wirklich zu spät, liebes Kind,« antwortete er, zog ihren Arm durch den seinen und sagte schmunzelnd: »Wir wollen in unser Zimmer gehen.«
Es war das Zimmer, das Frau von Zehren Ilse geschildert hatte. Nußbaum mit hellbraunem Rips. Über den Gardinen waren Lambrequins aus Straminstickerei angebracht, lila Stiefmütterchen zwischen rehfarben abschattierten gotischen Ornamenten; ebensolche Streifen zierten die Polstermöbel und waren alle Werke von Frau von Zehrens rührigen Händen. Auf der braun und goldenen Tapete hingen Daguerreotypen und Photographien von vielen Zehrens und Saßmackens, die, gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als die ganze bräutliche Einrichtung neu gekauft worden war, selbst auch jung und frisch gewesen sein mochten. Zwischen ihren verblaßten Gesichtern prangten verschiedene eingerahmte Bibelsprüche.
An einer Wand aber standen ernst und feierlich die beiden in Nußbaum geschnitzten Betten dicht nebeneinander, gemischte Vorstellungen von Altar und Schlachtbank erweckend. Auf dem schneeweißen Kopfkissen des einen Bettes lag, weithin sichtbar, ein Buch.
»Was ist denn das?« wandte sich Herr von Zehren, darauf weisend, an das derbe rothändige Stubenmädchen, das eben die Vorhänge an den Fenstern zusammenzog.
»Die gnädige Frau Mutter hat vor ihrer Abreise das Buch auf das Bett der jungen gnädigen Frau gelegt,« antwortete das Mädchen und stapfte mit einem mühsam unterdrückten Grinsen auf dem breiten Gesicht aus dem Zimmer.
Ilse nahm das Buch und schlug es auf. Theophil schaute neugierig über ihre Schulter hinein, und zusammen lasen sie:
F. A. Ammon.
Mutterpflichten.
Darunter stand in Frau von Zehrens steiler Handschrift:
»Meiner Schwiegertochter zu Beherzigung.«
»Ja, ja,« sagte Theophil, »Mama ist wie das Landrecht, sie denkt vor allem an den Zweck der Ehe – na, und weißt du, kleines Ilseken, der ist eben für einen Majoratsherrn auch wirklich verflixt wichtig.«
Ilse lernte zwei ganz verschiedene Inkarnationen desselben Theophil kennen. Da war der Theophil der Tage, gemessen und würdevoll; in Geste und Tonfall an Kanzel- und vaterländische Vereinsredner mahnend, deren Sätze auf Amen oder Hurra auszuklingen pflegen. Lehrreich und herablassend nannte der sie: »Liebes Kind.« – Und daneben gab es einen ganz anderen Theophil, jenen, der, wie manche Kakteen- und Violensorten, nur mit einbrechender Dunkelheit sein wahres Wesen offenbarte. Sobald die ihm Halt verleihende Tagesgewandung von ihm abglitt, gingen seine ungelenken Glieder wie ausgerenkt auseinander, und mit dem allzu kleinen Kopf auf dem allzu langen Halse und den abschüssigen Schultern glich er dann in seiner Dalbrigkeit einer verliebten Giraffe. Mit heißem Atem in ihr Ohr flüsternd, nannte sie dieser Theophil: »Mein Lutschbonbonchen!«
Ja, immer genauer lernte sie die beiden so verschiedenen Inkarnationen kennen! Lernte auch beobachten, daß, je ungemessener der eine Theophil sich seinen Gefühlsäußerungen hingegeben hatte, der andere um so feierlicher des nächsten Tages war. Als schäme er sich nachträglich dessen, was er einige Stunden vorher doch Liebe genannt. Als fürchte er, sich durch dies Gefühl zu sehr an Ilse zu verlieren und etwas von der Autorität einzubüßen, die ihm als Mann und Zehren zustand, wie um das Gleichgewicht wieder herzustellen, sprach er dann besonders viel über Pflicht. Von den Pflichten der Regierung zur Erhaltung des so notwendigen Standes der Großgrundbesitzer, von den Pflichten des Geistlichen gegenüber dem Kirchenpatron, von den Pflichten all seiner eigenen Angestellten hatte er ja stets gern geredet; jetzt aber, wo er sich für »eine junge ungefestigte Frau verantwortlich fühlte«, sprach er am allermeisten über »die Pflichten des Weibes«. – Er wußte deren eine ganze Liste, und sie bedeuteten eigentlich nichts Geringeres, als ein völliges Aufgeben jeglicher eigenen Persönlichkeit. Die Selbstauflösung als höchste sittliche Forderung. Das Besessenwerden des einen Menschen durch den anderen, der passive Daseinszweck, dem sich Ausleben dieses anderen zu dienen. – Geschmack, Ansichten, Stimmungen, Sehnsuchten der Frau waren in der Zehrenschen Weltordnung wertlose Faktoren. Die Aufgabe des Weibes bestand darin, möglichst rasch und auf allen Gebieten zur gänzlichen Unterordnung und Anschmiegung an den lebenslänglichen Herrn, den Mann, zu gelangen. – Mit weihevollem Augenaufschlag nannte Theophil dies alles zusammenfassend »das Aufgehen in den Interessen des Mannes«. – Als Gegenleistung stellte er Ilse den etwas vagen Begriff in Aussicht, »sie in Ehren halten zu wollen«, wie es einem deutschen Edelmann gezieme und schon Tacitus an den alten Germanen rühme.
Es war kein leichter Kursus, den die kleine Ilse bei diesem Lehrmeister durchmachte!
Und doch sagte sie sich, daß alles, was die Tage brachten, vielleicht zu ertragen gewesen wäre. Aber sie lernte ja auch den Ekel vor sich selbst kennen und die brennende Sehnsucht, irgendeinen Winkel auf Erden zu besitzen, wo man sich gegen jedermann einschließen und wieder »ich« sein darf. Das späte Einschlafen bei verhaltenem Schluchzen kannte sie, den immer wiederkehrenden Traum, daß es ja alles gar nicht wahr