Ille mihi. Elisabeth von Heyking
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Zwanzig lange Jahre hier im Sande stehen, nur um den Boden zu verbessern für die, so nachher kommen würden! Der achtzehnjährigen Ilse klang das endlos lang. Sie fröstelte im matten Schein der sinkenden herbstlichen Sonne. – War das wirklich des Lebens ganzer Zweck und Inhalt? ein Jeder immer nur Vorbereitung für einen Künftigen? – Gab es nichts Höheres, wie nur geduldig still halten an dem Platze, den Zufall oder eigene Blindheit bestimmt? – Pflichten waren ihr früher, halb unbewußt, stets als schwer zu vollbringende, heroische Taten erschienen, und nun dämmerte es vor ihr auf, daß, in der Jugend, schwerer als alles Tun, das tatenlose Verzichten ist.
Eines Nachmittags, als Theophil seine Mutter und Ilse wieder einmal nach Wüste Teufelstrift kutschiert hatte, trafen sie dort des Försters junge Frau.
»Schau mal an,« sagte Frau von Zehren, »die Anne Dore hat es ohne ihren Mann nicht aushalten können und ist ihm nachgelaufen.«
»Ja – es gibt auch solche Frauen,« murmelte Theophil.
Die Anne Dore war rot und verlegen geworden, und Treumann entschuldigte ihre Anwesenheit.
»Nun, wenn sie Sie nur nicht von der Arbeit abzieht …«, meinte Theophil herablassend.
Während er dann mit seiner Mutter und dem Förster den Fortschritt der Arbeiten besichtigte, blieben die beiden jungen Frauen zurück.
»Mein Mann ist jetzt schon von früh ab hier draußen,« sagte Anne Dore, »da wollt ich doch mal nach ihm schauen – die gnädige Frau werden das sicher begreifen.«
»Sind sie wirklich so gern mit ihm zusammen?« fragte Ilse.
»Na, das will ich meinen!« antwortete Anne Dore lachend, »den ganzen Tag und – die ganze Nacht!« Und dann setzte sie hinzu: »Dazu heiratet man doch!«
Ilse sah sich um, ob niemand sie hören könne, und ohne die junge Försterfrau anzublicken, fragte sie dann eilig und leise: »Wußten sie denn … was das eigentlich heißt … sich zu verheiraten?«
»Na gewiß doch,« antwortete die andere, »und es war oft schwer genug zu warten während unserer langen Brautzeit – bis er die Stelle hatte, auf die hin wir heiraten konnten – na, aber jetzt! —«
Aber Anne Dore lief ihrem Mann den langen Weg bis Wüste Teufelstrift nicht mehr häufig nach, sie sah blaß und müde aus. Einen Sonntag nach dem Gottesdienst rief Frau von Zehren sie beim Verlassen der Kirche zu sich und stellte eine Art Verhör mit ihr an, während Treumann abseits stehen blieb und halb stolz, halb schuldbewußt den Jägerhut zwischen den Fingern drehte. Nachdem sie dann Anne Dore mit gnädigem Kopfnicken entlassen halte, trat Frau von Zehren wieder zu Theophil und Ilse, die am verschneiten Grabe des töchterreichen Gotthold auf sie gewartet hatten. »Bei Anne Dore ist‘s soweit,« sagte sie unsanft zu Ilse gewandt, »die kriegt ein Kind – hat zur selben Zeit geheiratet wie ihr – ja, so eine Frau kann das – na, ich hoffe bestimmt, du machst es ihr bald nach.«
Aber trotz dieses Wunsches, der wie ein Befehl des Zehrenschen Familiengeistes klang, ergab sich für Ilse keine Veranlassung, die in F. A. Ammons Werk erhaltenen Ratschläge anzuwenden. – Und es begann allmählich eine erbitterte Stimmung in Weltsöden zu herrschen. Die rund herum auf ihren Gütern sitzenden Vettern fingen an Theophil leise zu necken, wenn sie ihm bei Jagden, Kreistagen oder Familienvereinigungen begegneten: »Na, heiliger Theophil, was Neues zu Haus?« – Theophil kehrte dann mit dem Ausdruck beleidigter Würde heim; bisweilen hüllte er sich in langes mürrisches Schweigen, oder er gab Ilse zu verstehen, daß sie sein Ansehen in der Familie mindere. Bei seiner Mutter beschwerte er sich, als würde ihm vorenthalten, worauf er ein gutes Recht habe.
Frau von Zehren aber konnte und wollte es nicht glauben, daß auch in der Ehe dieses ihres zweiten Sohnes der heiß ersehnte Erbe ausbleiben könne. Damit wäre ja die älteste Linie der Familie ausgestorben und Weltsöden, dem sie die Kräfte ihres ganzen Lebens geweiht hatte, würde übergehen auf den Kummerfelder Zweig! So etwas konnte der liebe Gott doch nicht zugeben? – Vor allem aber würde sie selbst es nicht zugeben, man konnte dem lieben Gott nicht alles überlassen, was auch Pastor Rockstroh darüber sagen mochte, es mußte Ihm manchmal helfend beigesprungen werden – dazu gab es ja Ärzte auf der Welt.
So wurde der alte Arzt aus der Kreisstadt, der seit vielen Jahren die jungen und alten Zehren behandelte, nach Weltsöden berufen.
An der ganzen Person des alten Dr. Liebetrau war der auffallendste Teil sicher seine Nase. Vom feurigen Rosenrot bis zum tiefsten Violett erglühend, thronte sie in seinem Gesicht wie eine Herrscherin, umgeben von einem Hofstaat seltsamer kleiner Protuberanzen; zwei Wäldchen schwarzer Borsten erstreckten sich aus den breiten Nasenlöchern bis herab zu den finsteren Forsten des Schnurrbarts. Mit Schnupftabak, den er in einer mit dem Schattenriß Nettelbecks gezierten Horndose stets bei sich führte, bediente Dr. Liebetrau diese Nase, wie eine Weihrauch heischende Gottheit, und er schneuzte sie in rote Foulard-Taschentücher, auf deren türkischen Mustern die Spuren des Tabaks wenig sichtbar waren.
Zitternd erwartete Ilse den Doktor. – Wie sehr sehnte sie sich doch nach der Zeit zurück, da sie von Papa und Greinchen so wohl gehütet worden war, daß sie nichts von des Lebens Wirklichkeiten geahnt hatte! Und welch bitteres, dem Haß ach so verwandtes Gefühl, stieg doch bisweilen in ihrer geheimsten Seele gegen den auf, der ihr Traumdasein zerstört und an seine Stelle nur Grauen und Widerwillen gesetzt. Die ganze Welt erschien ihr heute angefüllt mit schauerlichen physischen Dingen. Tierische Triebe lagen als Ursprung hinter allem Lebenden; die ganze Schönheit der Welt, an der sie sich einst kindlich gefreut, war Trug und Blendwerk, sie entstieg ja eklen Tiefen. Manchmal wurde die arme kleine Ilse von solchen Bildern verfolgt wie von Dämonen, daß sie vor sich selbst schauderte. Wo waren all die zarten schönen Gebilde, die ganze große Sehnsucht ihrer Mädchentage hin verweht? – Dann zog sie sich voll Scham und krankhafter Überempfindsamkeit in sich selbst zurück, beneidete die Schnecken um ihr Gehäuse, in das sie sich allzeit verkriechen können und schuf sich ein Ideal einsamer Askese. Als Wehr gegen all das, was sie als Erniedrigung empfand, träumte sie von Nonnentum, von Welten ätherisch geschlechtsloser Wesen – und vernahm doch schon in dem verborgensten Innern ihres Wesens eine Stimme, die leise flüsterte: Du willst verneinen, was du ja noch gar nicht kennst.
Und nun sollte dieser Arzt kommen und würde an all das rühren, was sie so gern vergessen wollte.
Aber Dr. Liebetrau erwies sich als gar nicht erschreckend. Mit den kleinen klugen Äuglein, die wie vergessen zu beiden Zeiten der heroischen Nase lagen, schaute er Ilse gutmütig an. »Also man kann es nicht erwarten, daß wir ein eigenes Wickelkind haben?« sagte er, »sind ja selbst beinahe noch eins!«
Und als er nachher von Frau von Zehren eifrig nach etwa notwendigen Kuren oder Operationen ausgeforscht wurde, antwortete er: »Tun Sie vorläufig gar nichts. Lassen Sie das junge Frauchen erst mal heranwachsen und zu Kräften kommen. Es ist ein zartes Pflänzchen. Und wozu auch die Ungeduld? Warten Sie‘s doch ruhig ab – Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden.«
»Aber bester Liebetrau,« entgegnete Frau von Zehren, »ich hab doch mein Lebtag noch nicht gehört, daß zu so was viele Tage nötig seien, und Sie reden heut ganz anders wie neulich, wo ich entdeckte, daß die Küchendörte ein uneheliches Balg erwartet – da meinten Sie, ich solle ihr verzeihen, denn so ein Unglück sei doch nun mal gar so rasch geschehen.«
Um aber Frau von Zehren die Beruhigung zu gewähren, daß doch etwas geschähe, um das Kommen des künftigen Erben zu beschleunigen, verordnete Dr. Liebetrau viel Ruhe und gute Ernährung und verschrieb Eisen und Arsenikpillen. Während er dann den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose aufklappte und seiner Nase das Tabaksopfer darbrachte, sagte er: »Ich