Ille mihi. Elisabeth von Heyking

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Ille mihi - Elisabeth von Heyking

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Umgebung kühl gegenüberstand, vielleicht wohl Aussicht hatte, ihr selbst verwandt zu sein.

      Bald darauf wurden die Wagen gemeldet, und die Gäste, die nicht, weiter Entfernungen halber, in Kandau selbst übernachteten, bekleideten sich mit all den verschiedenen Hüllen, Staub- und Regenmänteln, Lodenkapes, flauschigen weiten Fahrulstern, Kapuzenkragen und weichen Tüchern, wie sie sich nur in alten Landhäusern ansammeln. Dann fuhren sie in den verschiedensten Richtungen davon.

      Auch Frau von Zehren, Theophil und Ilse hatten den offenen Weltsödener Wagen bestiegen und waren abgefahren. Nach einigen Minuten hielt Jochem an und vertauschte den Livreezylinder, den er in die mitgebrachte Pappschachtel tat, mit der Mütze. Dann ging es in mildem Trab weiter.

      Es war eine seltsam laue und einschläfernde Luft, und wirklich vernahm Ilse auch bald die regelmäßigen Atemzüge Theophils und seiner Mutter; sie selbst blieb wach und genoß dies Gefühl, allein wach zu sein. Sie ward sich plötzlich bewußt, daß während der letzten Wochen unendlich viel bisher Ungeahntes in dämmerhaften Umrissen an ihrem Horizonte aufgetaucht war, durch die Bücher, die sie gelesen, wie auch durch manche Aussprüche Dr. Liebetraus. Sie fühlte sich hilflos und wie beängstigt vor all diesem Neuen. Die Welt war voller Fragezeichen.

      Nun kamen sie an Frohhausen vorüber. Heute brannte Licht in der alten Laterne über dem großen Eingangstor zum Parke. Zu beiden Seiten standen alte einstöckige Pförtnerhäuschen mit hohen, abgesetzten Dächern. Dahinter erstreckte sich die dunkle Baummasse der breiten Lindenallee, die zum Schlosse führte. Der Fahrweg folgte von da ab eine Strecke lang der Umfassungsmauer des Parks. Es war sandiger Boden. Aus dem milden Trab waren die Pferde in Schritt übergegangen. Oben auf dem Bock senkte Jochem den Kopf, ein paarmal vorwärts, ein paarmal seitwärts, richtete sich dann aber jedesmal erschrocken wieder auf – doch schließlich war auch er wie seine Herrschaft eingenickt.

      Und in der tiefen nächtlichen Stille war es Ilse, als schwebe zu ihr, der allein wachenden, aus der Richtung des unsichtbaren Schlosses der leise Klang eines fernen, unbekannten Liedes.

      Am nächsten Nachmittag hatten sich einige Verwandte im Weltsödener Gartensaal zum Tee eingefunden, als Graf und Gräfin Helmstedt gemeldet wurden. Und wie Ilse die Gräfin nun wirklich eintreten sah, hatte sie das Gefühl: dies ist ein Erlebnis. Sie empfand für sie sofort jene mit Scheu gemischte Bewunderung, die ganz junge Mädchen gerade für ältere Frauen bisweilen hegen. An die Jahre, die Gräfin Helmstedt zählen mochte, dachte freilich niemand bei ihrem Anblick. Sie war wie jemand, der vielleicht nie sehr jung gewesen und sicher nie sehr alt erscheinen würde. Ihr volles duftiges Haar schimmerte bisweilen grau, doch konnte man es ebensogut für ein unbestimmtes Blond halten, und neben den bunten Waschblusen und derben Sergeröcken der anderen Damen schien, was sie trug, kein wirkliches Kleid zu sein. »Gewänder« war das Wort, das Ilse einfiel. Und auch darin hatte sie etwas Zeitloses.

      Die langstielige Lorgnette vor die Augen haltend, die zwischen lang bewimperten, halb geschlossenen Lidern blinzelten, kam sie von weitem auf Ilse zu. Doch wie sie nun, vor ihr stehend, die Augen plötzlich aufschlug, waren diese so klar und leuchtend, daß die Lorgnette nur noch ein Spielzeug der weißen Hände mit den Perlenringen schien.

      »Also nun seh ich Sie endlich,« sagte die Gräfin, »Wolf Walden hat mich nämlich ganz begierig gemacht, er schrieb so viel von Ihnen.«

      »Von mir?« fragte Ilse erstaunt, »aber er hat mich ja kaum gesehen. Meinen Mann freilich kennt er schon lange.«

      »Ja, das kömmt vor, daß man den Mann lange kennt und doch mehr über die Frau schreibt,« antwortete die Gräfin mit einem leicht perlenden Lachen, das den Eindruck machte, als glitte es mit verständnisvoller Nachsicht über alle Vorkommnisse des Lebens dahin. »Er fragte in seinem letzten Briefe, ob ich Sie kennen gelernt hätte – ja, und nun möcht ich Sie wirklich kennen lernen.«

      Die Gräfin hatte in allem, was sie tat, die selbstverständliche Souveränität von Frauen, die viel gefeiert worden sind. Als sich bald darauf die ganze Gesellschaft vom Saal in den Garten begab, um die ersten Tulpen zu sehen, schritt sie neben Ilse durch die mit Buchsbaum eingefaßten Kieswege. Und Ilse wußte nicht recht, wie es zuging, aber sie hatte dieser fremden Frau bald all die Einzelheiten ihres Daseins anvertraut, während sie sprach, empfand sie, welche Wohltat es war, so reden zu können, und daß sie sich solche Aussprache wohl schon längst gewünscht haben mußte. Sogar von den Büchern droben in der Bodenkammer erzählte sie. Die Gräfin kannte all die Werke, die Ilse nannte; sie hörte mit nachsichtigem Lächeln ihre glühende Schilderung der allen Hindernissen zum Trotz glücksuchenden Heldinnen Georges Sands, und dann sagte sie milde: »Ja, ja, davon träumen einmal wohl alle armen Kettenträger – und wen die Götter lieben, dem erfüllen sie den Traum – aber sie lassen auch manchen dran zugrunde gehen.« Dann brach sie ab und sagte mit plötzlicher Lebhaftigkeit: »Aber nun erzählen Sie mir vor allem von Ihrer Musik – denn Sie, eine Enkelin von Ingeborg Thor Hacken müssen ja ein ganz besonders begnadetes Menschenkind sein! Sie singen doch natürlich?«

      Ilse errötete, sie wußte ja nun längst, daß die Zehrens ihr diese Großmutter nie verziehen hatten, diese längst verstorbene Großmutter, die sich ein kunst- und schönheitsbegeisterter Sprosse fürstlichen Geblüts als einzige »Tat« seines Lebens mit der linken Hand von der Oper fortgeholt hatte. Es war seltsam, nun plötzlich eine so andere Bewertung kennen zu lernen, zu erleben, daß der Name dieser Großmutter, der von den Zehrens behandelt wurde, wie ein unvertilgbarer Rostfleck auf einem Tischtuch, den man durch Blumen oder Konfektschalen scheu verbirgt, von der Gräfin laut gerühmt wurde, als gäbe er der Enkelin ein Anrecht, zu den besonders Begünstigten des Lebens zu gehören! Und Ilse antwortete: »Als Kind habe ich sehr viel Klavier gespielt und auch immerzu gesungen, so ganz von selbst – und Papa sagte, wenn ich erst alt genug sei, solle ich auch Gesangunterricht erhalten – aber – da hab ich mich ja verheiratet.«

      Es klang so herzbrechend traurig, als ob ein armes Mäuschen piepste: da fiel die Fallentür hinter mir zu, dachte die Gräfin. Und sie sagte eifrig: »Das ist aber doch kein Grund, nicht jetzt mit dem Singen anzufangen. Ich bin ja ganz sicher, es steckt Talent in Ihnen. Wir werden es probieren und ausbilden. Kaliwoda ist jetzt für einige Zeit bei uns, und Lydia Neuland, die sollen Ihnen Unterricht geben. Sie müssen recht viel zu mir kommen.«

      Die ganze Gesellschaft war nun bei dem Rondel angelangt, wo um alte Sandsteinfiguren die flammenden Tulpen in großen Beeten blühten. Und Gräfin Helmstedt wandte sich zu Theophil: »Nicht wahr, Sie erlauben mir, Ihnen Ihre Frau diesen Sommer manchmal zu entführen?« und sich an seine Mutter richtend, sagte sie: »Töchterlose Frauen wie ich sind auf Anleihen angewiesen.«

      Theophil fühlte sich geschmeichelt, denn wenn man auch über Gräfin Helmstedt gern klatschte, so lag vor allem doch viel Neid in dem, was man über sie vorbrachte. Es ließ sich ja nicht fortleugnen, daß sie eine Frau war, die eine Rolle in der Welt gespielt hatte, die an jedem Hofe bekannt war und mit allen Berühmtheiten in Verkehr stand. Von ihr bemerkt zu werden, war immerhin eine Auszeichnung. Darum verzog auch Mechtild den Mund bittersüß: Es wäre doch natürlicher gewesen, wenn Gräfin Helmstedt bei diesem plötzlichen Wunsch nach töchterlichem Anschluß an eine ihrer neun Mädchen gedacht hätte! Während wiederum Frau von Werbach-Stolfitten, geborene von Zehren, sich sagte, daß von allen jungen Damen der Verwandtschaft für die kunstenthusiastische Gräfin doch nur ihre Gabriele hätte in Betracht kommen können, die die Begebenheiten des Familienlebens in so artige Verse zu bringen wußte. – Allerhand Begierden waren in diesen mütterlichen Herzen wach geworden durch der Gräfin Worte. Sie war bisher keiner der Damen in der möglichen Rolle einer gutmütigen Tante erschienen, in deren Hause die Mädels gratis erstklassige Musikstunden ergattern konnten. Warum aber sollte nun gerade Cousine Ilse solche Vorteile genießen? Cousine Ilse, die ja schon einen Mann hatte, wodurch an sich Musikstunden doch wirklich überflüssig wurden, und die obendrein diesen anfechtbaren Stammbaum besaß und sich nicht einmal beeilte, ihre erste und wichtigste Frauenpflicht zum Fortbestand der Familie zu erfüllen.

      Später

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