Ille mihi. Elisabeth von Heyking

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Ille mihi - Elisabeth von Heyking

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Ilse aus den lang geschlossenen Zeiten entgegen, und sie vernahm auch hier das Rauschen jenes alten Liedes vom Recht auf Glück und Liebe, dessen betörender Klang schon so manches junge Herz hingerissen hat. Da war nicht die Rede von selbstverleugnendem Ausharren auf ödem, freudlosem Feld, sondern die Heldinnen dieser Bücher ließen sich von den mächtigen Schwingen eines starken Willens zur Lebenslust über alle Schranken hinweg zu den Zielen ihrer Sehnsucht tragen, woran die leichtlebigen Marquisen des achtzehnten Jahrhunderts in den kurzen Jahren zwischen ihrem Austritt aus dem Kloster und der Karrenfahrt zum Schafott nur verstohlen und lächelnd genascht hatten – worüber die blutarmen und gefühlsreichen Schönen empfindsamerer Zeiten in Sehnsucht zerschmolzen und hingestorben waren – das nahmen sich diese Töchter jüngerer Tage mit der Gebärde selbstherrlichen Rechtes.

      Und vielleicht lag hierin etwas, das verborgene Saiten in Ilses Wesen anschlug. Einer alles überwindenden Begeisterung für ein Ziel fühlte auch sie sich fähig. – Nur das Ziel selbst verstand sie nicht recht. Und mit aufgekrauster Stirn, den Kopf zwischen die Hände gestützt, grübelte sie nach: um was drehte sich denn eigentlich alles? – schließlich wollten alle diese Heldinnen doch immer nur dasselbe: statt des einen Mannes einen anderen. – Konnte das wirklich etwas so ganz verschiedenes sein?

      So begann sie zu ahnen, daß es Geheimnisse geben müsse, von denen sie nichts wußte, Gefühle, die sie nicht kannte, Gewalten, vor denen alles andere schweigt, daß es einen auch heute ebenso mächtigen Zaubertrank gäbe, wie zu den fernen Zeiten von Tristan und Isolde. Eine Art Neugier regte sich bisweilen in ihr. Dann las und las sie eifrig weiter, als ob sie in den Büchern Aufklärung finden müsse. – Manchmal auch hielt sie inne und träumte in der Dachkammer vor sich hin, ließ die Menschen an sich vorübergleiten, die sie in ihrem kurzen Leben nicht gekannt, aber doch gesehen hatte. Ein junger Klavierlehrer tauchte in ihrer Erinnerung auf, der mehr Ausdruck in seine Augen wie in seine Finger gelegt hatte, wenn er ihr die Sonaten vorspielte, die sie üben sollte; der engbrüstige Geistliche, der sie eingesegnet hatte, Spaziergänger, denen sie in der Straße begegnet war, und die ihr nachgeblickt hatten; auch der blaue Märchenritter ihrer kindischen Träume, der den Gang ihres Lebens ahnungslos so sehr beeinflußt hatte und dessen Züge in ihrem Gedächtnis doch nur noch ganz verschwommen standen. – Ach, sie alle konnten ihr nichts sagen.

      Doch weiter dachte sie dann inmitten Onkel Thilos verstaubter Bücher an ihre Verlobung und Hochzeit, an all die neuen Gesichter, die sie damals zuerst gesehen. Da löste sich von den Übrigen Herrn von Waldens Gestalt, wie aus weiter Ferne schien er langsam auf sie zuzuschreiten und schaute sie an – anders als all die anderen. Sollte er ihr etwas zu sagen haben?

      Aber sie mußte selbst über diesen Einfall lachen. Zu Herrn von Walden waren ihre Gedanken wohl nur durch eine unbewußte Ideenverbindung mit Onkel Thilo gewandert. Denn wie Walden heut, war ja Onkel Thilo einst Diplomat gewesen, hatte auch in fernen, fremden Weltteilen gelebt. Ferner und fremder noch als jetzt mußten sie zu seiner Zeit gewesen sein – damals reiste man ja noch meist mit Segelschiffen! – von seinem letzten exotischen Posten hatte Onkel Thilo einen Papagei, einen Affen und ein Leberleiden nach Weltsöden heimgebracht. Das Leberleiden hatte ihn gar bald auf den Friedhof gebracht, der Papagei und der Affe dagegen waren nach ihrem Tode ausgestopft worden und prangten noch heute unten in Theophils Stube an der Wand, zwischen den Hörnern und Geweihen heimatlicher Böcke und Hirsche. Mit den vielen Büchern hatte sich Onkel Thilo in dem entlegenen Lande sicher oft die Zeit vertrieben, denn sie waren wohl gelesen, und viele Stellen hatte er unterstrichen und mit Randbemerkungen versehen. – Ob wohl Herr von Walden auch so viel las, dort, wo er jetzt war? – Aber der wollte ja nicht nur einen Papagei und Affen mitbringen, sondern »allerhand« für Deutschland erringen, – er hatte »Ziele«, wie Theophil gesagt – da blieb wohl nicht viel Zeit für Bücher. – Ziele, hohe Ziele haben! – Das mußte schön sein, das bedeutete wohl, diejenigen Dinge zu tun, von denen die anderen Leute nur in Büchern lesen. – Ach, glückliche Menschen!

      Aber was für Ziele haben denn Frauen? dachte Ilse weiter. Eigentlich gar keine selbständigen, keine, für die man sich so recht zu begeistern vermöchte. Bekommen sie einen Mann, der sich große Aufgaben stellt, so dürfen sie ihm vielleicht helfen und dienen – und das müßte freilich schön sein. – Ja, den richtigen Mann zu bekommen, das war offenbar der eine Hauptzweck im Leben jeder Frau – darin stimmten ja auch die verschiedensten Bücher Onkel Thilos überein. Des Sinnens müde vertiefte sich Ilse von neuem in ein Buch, das ihr an diesem Tage gerade in die Hände gefallen war. »Die Wahlverwandtschaften« hieß es, und darin gab es auch viel Not und Verwirrung, weil zwei sich geirrt hatten und der eine für den anderen wohl nicht der Richtige war. Sie hatte gelesen bis zu der Stelle, wo Charlotte in den Zügen ihres Kindes eine Ähnlichkeit mit dem Hauptmann und in seinen Augen die Augen Ottiliens wiedererkennt. Ganz ergriffen war sie von diesem, geheimstes Sehnen offenbarenden Wunder. – Doch nun sprang sie erschrocken auf, denn es fiel ihr ein, daß es bald Essenszeit sein mußte. Noch ganz benommen von dem eben Gelesenen rannte sie aus ihrem Versteck herunter. Aber glücklicherweise waren weder Theophil noch Frau von Zehren heimgekehrt.

      Dagegen saß Anne Dore im Flure. Schwerfällig wollte sie sich erheben, als sie Ilse gewahrte, doch diese drückte sie mitleidig in den Sessel nieder.

      »Ich warte auf die gnädige Frau Mutter,« sagte Anne Dore, »ich bringe ihr das Muster eines Kinderhemdchens zurück, das sie mir geliehen hat. Ich habe schon viel für die kleine Ausstattung fertig.«

      »Ihnen ist wohl recht bange?« fragte Ilse leise und schaute teilnehmend auf die entstellte Gestalt und das müde Gesicht, dessen einstmalige Röte unter großen gelben Flecken verschwunden war.

      »Ach nein,« antwortete Anne Dore lächelnd, »zum Sterben wird‘s ja wohl nicht gleich kommen. Na, und geht‘s auch das erstemal schwer, so hat man doch was vom Leben gehabt.« Und dann setzte sie hinzu: »Ich wünsche mir, daß es ein strammer Jung« ist, der meinem Mann recht ähnlich sieht!«

      Ilse hörte ihr schweigend zu und wieder fühlte sie, daß sie, wie droben bei den Schilderungen der Bücher, so hier im wirklichen Leben, vor Unbekanntem stand, und daß der schlichten Anne Dore ein bescheidenes Tröpfchen jenes geheimnisvollen Zaubertrankes zuteil geworden, der ihr selbst vorenthalten geblieben. – was mußte das für ein mächtiges Gefühl sein, das diese Frau so gefaßt von Schmerz und Gefahr reden ließ? – Und dann dieser Wunsch für das Aussehen des Kindes?

      In diesem Augenblick traten Frau von Zehren und Theophil eilig und erhitzt von draußen ins Haus. Und wie nun Ilse die Gestalt ihres Mannes sah, mit dem langen Halse und den abfallenden Schultern, die an die Umrisse einer Champagnerflasche mahnten, und in dem hageren Gesicht die dicken roten Lippen gewahrte, die wie ein Widerspruch zu allem übrigen wirkten, da flammte plötzlich der leidenschaftliche Wunsch in ihr auf: »Nie, nie ein Kind, das ihm gleicht! Mein, ganz mein müßte es sein! … oder? … Charlotte? … —«

      Aber der kleinen Ilse Herz war ja leer von Bildern.

      Bald nach ihrer Ankunft in Weltsöden hatten Theophil und Frau von Zehren Ilse in der Nachbarschaft vorgestellt; da aber die meisten umliegenden Güter von lauter Zehren bewohnt wurden, so war durch diesen Verkehr kein sonderlich neues Element in ihr Leben getreten. Sie wurden zu mehr oder minder feierlichen Diners eingeladen, deren Stunde zwischen drei und sechs Uhr schwankte. Man saß lange zu Tisch bei kräftig nahrhaften Speisen und stand schwer und mit geröteten Köpfen auf. Von den Angelegenheiten der verschiedenen Verwandten wurde gesprochen, von Kornpreisen, Viehzucht, künstlichem Dünger und Holzverkäufen. Manchmal auch streifte man Fragen der inneren Politik, da aber alle Anwesenden zu derselben Kaste gehörten und über solche Dinge nur die in dieser Kaste als selbstverständlich geltenden Ansichten hegten, so kam es nie zu einer Diskussion: etwas so Unstandesgemäßes wie abweichende Meinungen über derartige fundamentale Begriffe hätte keiner dem anderen überhaupt zugetraut. Eher schon gab es in landwirtschaftlichen Fragen auseinandergehende Anschauungen, weil da jeder persönliche Erfahrungen gesammelt hatte.

      Sobald nach dem Essen Kaffee und Liköre von den anwesenden jungen Mädchen

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