Ille mihi. Elisabeth von Heyking
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»Ich dachte nicht nur an die physische Seite,« antwortete der alte Arzt, »aber vom Gefühlskonto geht solcher allzu jungen Mutter leicht das Beste verloren, denn sehen Sie, wo keine Zeit zu wahrer Sehnsucht gewesen ist, da kann nachher auch nicht die rechte Freude sein.«
»Aber ich würde mich doch freuen,« meinte Theophil würdevoll.
Einstweilen freute sich nur die Schwägerin Mechtildis. Über ihre bleichsüchtigen, verhärmten Züge huschte jetzt bisweilen der Schatten eines triumphierenden Lächelns. Sie fragte und forschte nach alledem mit der spürenden Neugier der ausgemergelten Frau, die ihr Leben zwischen Schwangerschaften und Niederkünften verbracht; auch ihre Mägde mußten sich bei denen des Herrenhauses stets von neuem erkundigen, und sie wußten bald, daß sie einem sonst verdienten Tadel leicht entgingen, wenn es ihnen nur gelang, rechtzeitig hinzuwerfen: »Na, bei der jungen Gnädigen drüben ist‘s noch immer nichts.«
»Wie sehr begreife ich deinen Kummer, liebste Mama!« sagte Mechtildis mit süßsauren Lippen zu Frau von Zehren, als diese sie eines Nachmittags zum Kaffee besuchte. »Bei mir konnten wir doch bis zuletzt hoffen – neunmal im ganzen – und wer weiß, was noch geschehen wäre, wenn mir der Himmel meinen teuren Gotthold nicht so frühzeitig entrissen hätte – aber hier, wo so gar nichts ist …«
Mechtildis hatte gerade ihrer Tochter Adelgunde, die mal wieder an geschwollenen Drüsen litt, ein mit Salbe beschmiertes Läppchen hinter das Ohr gelegt und schickte sich nun an, ihrer Tochter Hugoline Tropfen in die entzündeten Augen zu träufeln. Sie kam aus solchen Verrichtungen nie heraus bei den vielen stets an irgend etwas kränkelnden Mädchen.
»Ja, Mechtild,« antwortete Frau von Zehren und schaute den häßlichen Enkelinnen nach, die das Zimmer nach vollendeter Operation verließen, »ja, neunmal war es – aber wenn man‘s heut bedenkt, wär das alles doch besser nicht gewesen – denn was soll aus den vielen armen Mädels werden?«
Doch da fuhr die sanfte, farblose Mechtildis auf, als ob in ein blasses, abgebrühtes Suppenhuhn plötzlich Leben wiederkehre, und sie sagte mit erregter Stimme und brennenden Flecken auf den Wangen: »Nun, meine Töchter sind alle im adligen Stift vorgemerkt und können da eintreten – sollte Ilse dagegen Töchter kriegen, so beständen die die Ahnenprobe freilich nicht.«
»Du meinst wohl wegen ihrer Mutter?« fragte aufschauend Fräulein von St. Pierre, die sich gerade auf Urlaub vom Hofdienst bei Mechtildis aufhielt, »wie war doch gleich die Geschichte?«
Fräulein von St. Pierre kannte die Geschichte aufs genaueste, aber es freute sie, immer von neuem etwas zu hören, was Ilse in ihren Augen irgendwie herabsetzte, und Mechtild tat ihr den Gefallen. Eifrig wiederholte sie: »Nun ja, Ilses Mutter war doch nur die Tochter der Sängerin Ingeborg Thor Hacken, die mit dem Herzog Bernhard von Mömpelgarde morganatisch verheiratet gewesen sein soll.«
»Das ist allerdings nichts Stiftsfähiges,« sagte Fräulein von St. Pierre und rümpfte die Nase. Mit überlegenem Lächeln betrachtete sie dann ihr eigenes Bild in dem aus drei Stücken zusammengesetzten Mahagoni-Trumeauspiegel zwischen den beiden Fenstern von Mechtilds Wohnzimmer. Sie wiegte sich dabei etwas in ihren zur Breite neigenden Hüften, als wolle sie sagen: Bei mir sind nicht nur die zweiunddreißig Ahnen in Ordnung, sondern ich wäre auch fähig gewesen, diese Vorzüge auf kräftige Nachkommen zu übertragen.
Nur die Tanten Askania und Lidwine, die sich auch gerade bei Mechtild zum Nachmittagsstippkaffee eingefunden hatten, versuchten zum Guten zu reden.
»Ich erinnere mich noch ganz genau an die Ingeborg Thor Hacken,« meinte Tante Askania, »und kann‘s begreifen, daß sich der Herzog in sie verliebte, wie sang sie die Lucia! und was war sie hübsch! Nicht wahr, Lidwine?«
»Ja, ja,« antwortete eifrig das andere alte Stiftsdämchen, »und wißt ihr, manchmal will‘s mir scheinen, als habe unser reizendes Ilschen auch so etwas Apartes von ihr abbekommen.«
»Na, da sei aber Gott vor!« rief Frau von Zehren inbrünstig aus.
Die beiden alten Stiftsdamen zogen erschrocken ihre gehäkelten Tücher, deren sie stets mehrere bei sich trugen, fester um die flachen Busen, und Lidwine sagte verschüchtert, aber doch immer noch im Bestreben, für das Lieblingsnichtchen einzutreten: »Ich meinte ja nichts Schlimmes, liebste Gottliebe – und die Thor Hacken war ja auch durchaus anständig – und hat nachher nur noch für Wohltätigkeitszwecke gesungen – ich wollte bloß sagen, daß das Ilschen anders ist … wie die Mädchen hier in der Gegend … so … als stecke vieles in ihr, was wir nicht kennen.«
»Ja, ja,« fiel Tante Askania ein, die nun auch wieder Mut gegen die gefürchtete Schwägerin gefaßt hatte, »sie kann sich so prachtvoll begeistern, wenn man ihr erzählt, und sie so dasitzt mit den großen weitgeöffneten Augen. Mir ist‘s immer – als ob sie etwas Schönes suche!«
»Aber sie hat doch alles!« riefen gleichzeitig Frau von Zehren und Fräulein von St. Pierre.
Während also bei Mechtild über sie gesprochen wurde, saß Ilse in einer Bodenkammer des Weltsödener Herrenhauses. Ganz zufällig, als einmal im Spätherbst große Wäsche gewesen und die Mägde in dem weiten Raum unter dem hohen Giebeldach die Wäsche an den kreuz und quer gespannten Stricken zum Trocknen aufhingen, hatte sie diese Kammer entdeckt. »Da drin sind nur alte Bücher und solch unnützer Kram,« hatte die Schwiegermutter auf ihre Frage geringschätzig geantwortet, »das meiste stammt von Onkel Thilo.«
Damals hatte Ilse nur einen Blick in das Zimmer werfen können, aber jetzt, wo Dr. Liebetrau Ruhe verordnet hatte und ihr daher mehr freie Zeit gegönnt wurde, schlich sie sich oft hinauf und kauerte nieder zwischen den vielen Büchern, die sich am Boden in Stößen und Ballen türmten und die Regale an den Wänden bis zum Dache füllten. Zuerst hatte sie scheu geblättert, wie ein kleines Mädchen, das fürchtet, bei verbotener Lektüre ertappt zu werden. Bald aber las und las sie mit großen Augen und glühenden Wangen und vertiefte sich ganz in die verschiedenen Welten, die die Bücher verschiedener Länder und Zeiten ihr offenbarten.
Aber so verschieden diese vielen Bücher auch waren, erkannte Ilse staunend doch bald, daß sie alle immer wieder, jedes auf seine Art, von demselben handelten: von der Liebe. Schon vor Jahrhunderten an felsiger, vom atlantischen Ozean wild umbrauster Rüste, hatte sie Dichter zu Gesängen begeistert, die heute noch immer fortklangen. Die Sage von Tristan und Isolde las Ilse und vernahm, wie jene zwei stolzen Herzen, von der Liebe Zaubertrank bezwungen, Welt und Gesetz vergaßen. Nach dem gewaltigen Sturmlied der Leidenschaft, das Ilse aus dem alten Epos entgegenschallte, erschienen ihr spätere Schriften matt und verzärtelt; sie blätterte nur flüchtig in den französischen Werken des achtzehnten Jahrhunderts, die Onkel Thilo gesammelt hatte. Die waren mit zierlichen Vignetten und Stichen illustriert, auf denen schelmische Amoretten die Vorhänge reich verzierter Rokokobetten neckisch lüpften, und eine ruhende Schöne von einem galanten Pagen in holder Verwirrung überrascht wurde, leicht und tändelnd wurden da die Dinge der Liebe behandelt – doch auch hier wieder als die eine große Lust der kurzen Erdentage gepriesen. – Andere Gefächer waren gefüllt mit empfindsamen deutschen und englischen Romanen. Die Helden und Heldinnen dieser Geschichten schwelgten bei Mondschein in wehmütig süßen Gefühlen, schwärmten und dichteten sich an, während die Nachtigall flötete, lehnten in fließenden Gewändern an Urnen tragenden Postamenten, bauten der Freundschaft Tempel, ritzten des geliebten Gegenstandes Namen in die Rinde der Bäume. Ätherische Wesen waren sie, denen die Tränen gar leicht an den langen Wimpern hingen, schöne Seelen, die, um sich von Trennungspein und Liebesgram zu befreien, mit blassen schlanken Händen die selbstmörderische Waffe gegen den Busen zückten.
Doch neuere Bücher auch fand Ilse. Die Romane der George Sand und ihrer zahllosen modernen Nachfolger. Da las sie von Frauen, die nicht ob einmaligen Irrtums den lockenden Freuden des